VI, Allgemeine Besprechungen 1, 1-14, Lamprecht Deutsche Geschichte Ergänzungsband, Seite 58

box 36/1
1. Panphlets offprints
Dichtung.
360
Henschel, selbständiger Fuhrmann in dem Hotel eines schlesischen
Bades, ein herkulisch gebauter, gutmütiger, gerader, aber nicht
weltkluger Mann, hat im Haushalt mehrfach Unglück gehabt
und ist im Begriff, seine Frau zu verlieren. Diese erschließt,
hilflos ans Bett gefesselt, aus kleinen Zügen gutmütigen Ent¬
gegenkommens ihres Mannes gegenüber der Dienstmagd Hanne
eine Neigung zu derselben; eifersüchtig läßt sie sich von Henschel
versprechen, daß er nach ihrem Tode Hanne nicht heiraten
werde. Henschel giebt das Versprechen, ohne ihm großen Wert
beizulegen, da er sich rein fühlt (erster Akt). Die Frau stirbt.
Henschel entschließt sich auf Zureden des Hotelwirts, Hanne
gleichwohl zu heiraten, da er von deren hartem, ja grund¬
bösem Charakter trotz langer Möglichkeit der Beobachtung keine
Ahnung hat (zweiter Akt). Hanne, nun Frau Henschel, ist
ihrem Mann untreu; ein Kind aus der ersten Ehe, das sie zu
pflegen hatte, stirbt. Henschel leidet unter der Ehe; in seiner
Gradheit glaubt er, frohes Leben in sein Heim bringen zu
können, indem er ein uneheliches Kind seiner Frau, dessen Dasein
ihn nicht von der Heirat abgehalten batte, dieser ohne ihr
Wissen zuführt. Der Eindruck bei der Frau ist der entgegen¬
gesetzte des erwarteten (dritter Akt). Andere Leute kennen die
Frau besser. Henschel wird an öffentlichem Orte, im Wirts¬
hause, von der Untreue seiner Frau unterrichtet, nachdem er
schon lange unter der stillen Zurückhaltung früherer Freunde
gelitten (vierter Akt). Er bricht unter der Wahnvorstellung,
daß sein Unglück Folge des Bruches des Versprechens an
seine erste Frau sei, zusammen und giebt sich selbst den Tod
(fünfter Akt).
Man sieht auf den ersten Blick, daß es sich hier nicht
bloß um eine der impressionistisch herkömmlichen Katastrophen
handelt; nicht die zufällige Störung eines labilen Gleichgewichts
erzeugt plötzliches Verderben, sondern das längere Nebeneinande.
zweier Charaktere reift allmählich das Unglück. Charakteristisch
hierfür ist schon, daß in dem Stück wohl die Einheit des Ortes
gewahrt ist, nicht aber mehr die der Zeit. Dabei ist einer
dieser Charaktere kieselhart und im ganzen darum unveränder¬
8

Dichtung.
lich. Der andere dagegen ist weich, und da
Die einzelnen Phasen dieses langsamen Unt
das Stück. Nicht als ob in dessen Verlauf e
Charakters Henschels erfolgte. Der tiefere Gr
bleibt. Schon im ersten Akt ist er ein sorglosen
in delikaten Fragen übergewissenhafter, etw
angelegter Mann, der schon nach kleinen Sch
legentlich an den Strick denkt. Aber was si
die Konstellation der Grundeigenschaften seine
sam verschwinden die frohen, lebenspendenden,
nisvollen, verderblichen treten hervor. Es ist
Himmel sich überzieht, erst leise, dann drohen
lich im Blitzschlag zu entladen. Und diesen
Dichter mit aller Kunst dramatisch=impressionist
vorgeführt. Dabei ist doch andrerseits die
Zuständlichen, des Milieus der Fuhrmannswo
lebens, des Kneipwirtsdaseins und der Ga
gehalten, und weitere Blicke fallen darüber hin
handwerkliche Dasein eines kleinen Badeortes
und Zustandsdrama zugleich, so könnte
Henschel“ nennen.
Wird diese Verbindung bei Hauptmann f
sie dem rein psychologischen Drama weichen?
Das neueste Drama Hauptmanns, „Michag
erteilt hierauf einstweilen allein die Antwoy
ist mit zwei Worten erzählt: ein Maler, Lehr
schule einer Provinzialhauptstadt — deutli
Breslau gekennzeichnet —, hat einen ungera
dieser geht zu Grunde. Was das Stück uns
die Schilderung gewisser Milieus: der
Schülerschaft des Malers, letzteres vergegenw
Tochter und einen begeisterten männlichen So
halb, der mit seiner Frau zugleich das a
modernen Malerelends repräsentiert, endlich
in dem der Sohn verkehrt. Aber alle diese
nur Mittel zu einem einzigen Zweck: zur K