VI, Allgemeine Besprechungen 1, Ernst Limé, Seite 3

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PanphletsOfforints
Beispiel auf Johannes Schlafs: „Meister Olze.“ Die Haupt¬
sache, der Kern ist bei Schnitzler immer das Problem, sei es
nun ethischer Art — wie im „Märchen“ — oder sozialer, bitte
oder auch
nicht sozialistischer, Natur — wie im „Freiwild“
rein menschlich, psychologisch, wie die Wissenschaft sagt, ich denke
z. B. an die „Liebelei“. Und das ist ja auch das Große, das
die Kunst immer anstrebt: ein Problem künstlerisch fassen, einen
Gedanken oder einen Gefühlswert künstlerisch gestalten; der
Maler oder der Plastiker kann von der Erscheinung ausgehen
und in sie dann sein Ich hineinversetzen, projizieren; der Dichter
und der Musiker aber muß durch sein Ich zur Erscheinung,
das Abstrakte ins Konkrete übertragen, in Worte oder Töne.
Zwei Dinge aber brauchen alle Künstler, in welcher Kunst sie
auch schaffen mögen: Gestaltungskraft und geistiges Innenleben,
Fantasie, oder wie wir das sonst nennen wollen, das sich nicht
benennen läßt. Beides besitzt Schnitzler in hohem, reichen Maße.
Nicht alle Probleme, die Schnitzler aufwarf, hat er auch gelöst;
aber verlangen wir denn das eigentlich? die Tat ist doch, daß
diese Fragen überhaupt gefragt werden, und auf die Art kommt
es an, wie sie gefragt werden?
Und darüber wollen wir jetzt ein wenig plaudern, ohne
auf jedes einzelne der Werke einzugehen.
Die meisten verstehen heute noch unter Größe: Pathos;
und bedenken dabei gar nicht, daß unsere Zeit eine ganz andere
ist, als die z. B., in der Schiller seinen „Wilhelm Tell“ oder
seinen „Wallenstein“ schrieb. Damals war noch Größe untrenn¬
bar verbunden mit großen, äußeren Ereignissen, welt= oder min¬
destens staatserschütternden Vorgängen; das ist nun ganz anders
geworden: die Ideale der Menschheit um 1900 sind wesentlich
verschieden von denen der Zeit der deutschen Befreiungskriege
oder der 48=er Revolution, um nur zwei naheliegende Beispiele
zu nennen; und das, was früher Tragik schien, ist heute nicht
mehr Tragik im tieferen Sinne; unser Drama ist verinnerlicht,
und sein Wesen sind nicht mehr äußere Vorgänge, sondern solche
seelischer, innerer Art, Wandlungen des Ich; und dann sah man
ein, daß den Charakter nicht einige große Eigenschaften aus¬
machen, sondern daß er viel komplizierter ist als man dachte
und wähnte. Denken Sie an eine Violine: nehmen Sie einen
Anfänger; er spielt nur in der ersten Lage, man kann ja da
alle Melodien ganz gut herausbringen, aber jetzt lassen Sie einen
Virtuosen die gleiche Weise spielen: er benützt alle Lagen, alle
Feinheiten, er gibt Ihnen erst das Wesen der Melodie, während
Ihnen der Anfänger das äußere Kleid mit Mühe und Not vor
Augen führte. Sehen Sie, das ist der Unterschied in der psycho¬
logischen Charakteristik von einst und jetzt; und Schnitzler ist ein
Meister in der Menschendarstellung; aus scheinbar unbedeutenden
Zügen, aus Kleinigkeiten baut er — nicht eine Theaterfigur,
sondern einen lebenden Menschen. Nur in gänzlicher Verkennung
aller dieser Umstände konnte man Schnitzler immer und immer
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