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Pamphlets offorints
wieder den Vorwurf machen, er komme über die „lieben, süßen
Mädelgeschichten“ nicht heraus und jede Größe sei ihm versagt.
Der erste Vorwurf wird schon durch die wohl gänzlich unbe¬
streitbare Tatsache hinfällig, daß „Der Schleier der Beatrice“
oder „Der grüne Kakadu“ sicherlich nichts mit lieben, süßen
Mädeln zu tun haben; doch von diesen Werken will ich später
sprechen. Wenn man aber sagt, Schnitzler fehle jede Größe, dann
nehme man nur z. B. „die Liebelei“ her; handelt es sich da
wirklich nur um Vorstadtmädchen? wächst da nicht aus dem
kleinen, engen Rahmen des Milieus etwas ganz Großes und
Erschütterndes auf? schreien da nicht Fragen, die in dieser ein¬
fachen Kühnheit und Macht nur Hebbel vorher gestellt hat?
Denken Sie an die eine kleine Szene im zweiten Aufzuge: der
alte Violinspieler Weiring und die Strumpfwirkersgattin
Katharina sitzen einander gegenüber und sprechen über das Leben,
über das Glück, über die Liebe . .. die Strumpfwirkersgattin,
die vor ihrer Ehe wohl manche verbotene Frucht genossen, preist
das enge, ehrbare Glück, das sich in Gestalt eines „anständigen
Menschen naht, der zufällig eine fixe Anstellung hat“ Der
Violinsvieler, der zeitlebens nur gegeigt und sonst vom Leben
nichts gehabt als Kummer und Enttäuschungen, der mit seiner
Schwester still und einsam gelebt, der findet die Kraft und den
Mut zu folgenden Worten: „Ich seh' sie ja noch vor mir (die
jüngst verstorbene Schwester), wie sie mir oft gegenübergesessen
ist am Abend, bei der Lampe in dem Zimmer da, und hat mich
so angeschaut mit ihrem stillen Lächeln, mit dem gewissen, gott¬
ergebenen, als wollt' sie mir noch für was danken — und ich,
ich hätte mich ja am liebsten vor ihr auf die Knie hingeworfen,
sie um Verzeihung zu bitten, daß ich sie so gut behütet habe vor
allen Gefahren und vor allem Glück!“ — Der arme Violin¬
spieler, den das Leben nur betrogen, getäuscht, der erhebt sich
zu dieser rein menschlichen Höhe: das ist innere, echte Größe,
und die uns überzeugend darzustellen, ist echte, starke Kunst.
Und besehen Sie einmal den prächtigen, technischen Aufbau dieses
Werkes, die feine Gegenüberstellung der beiden Paare, von denen
das eine lächelnd durchs Leben geht ohne große Erschütterungen,
etwas leichtsinnig, gutmütig, nicht sehr talentiert, aber auch nicht
dumm; das andere geht zu Grunde, es nimmt alles zu schwer;
das Mädchen geht an dem Jüngling zu Grunde, und dieser
wieder an einer anderen Frau; sie hätten sehr glücklich zusammen
cest la vie, ou c’est la mort. Der
sein können, aber ...
alte Violinspieler bleibt allein, seine Frau ist tot, seine Schwester
und seine Tochter und seine Kunst auch, denn das Komponieren
hat er längst aufgegeben ... Wie uns Schnitzler hier einen
Ausschnitt aus unserer Zeit gab, gelang es ihm auch fremde,
verflossene Zeiten zu fassen und zu gestalten. Im „Paracelsus“
ist es mißglückt, es wurde nur eine entzückend feine, geistreiche
Plauderei, in der ein Satz steht, den wir mit goldenen Lettern
gedruckt in allen unseren Stuben aufhängen sollten: „Wir spielen
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Pamphlets offorints
wieder den Vorwurf machen, er komme über die „lieben, süßen
Mädelgeschichten“ nicht heraus und jede Größe sei ihm versagt.
Der erste Vorwurf wird schon durch die wohl gänzlich unbe¬
streitbare Tatsache hinfällig, daß „Der Schleier der Beatrice“
oder „Der grüne Kakadu“ sicherlich nichts mit lieben, süßen
Mädeln zu tun haben; doch von diesen Werken will ich später
sprechen. Wenn man aber sagt, Schnitzler fehle jede Größe, dann
nehme man nur z. B. „die Liebelei“ her; handelt es sich da
wirklich nur um Vorstadtmädchen? wächst da nicht aus dem
kleinen, engen Rahmen des Milieus etwas ganz Großes und
Erschütterndes auf? schreien da nicht Fragen, die in dieser ein¬
fachen Kühnheit und Macht nur Hebbel vorher gestellt hat?
Denken Sie an die eine kleine Szene im zweiten Aufzuge: der
alte Violinspieler Weiring und die Strumpfwirkersgattin
Katharina sitzen einander gegenüber und sprechen über das Leben,
über das Glück, über die Liebe . .. die Strumpfwirkersgattin,
die vor ihrer Ehe wohl manche verbotene Frucht genossen, preist
das enge, ehrbare Glück, das sich in Gestalt eines „anständigen
Menschen naht, der zufällig eine fixe Anstellung hat“ Der
Violinsvieler, der zeitlebens nur gegeigt und sonst vom Leben
nichts gehabt als Kummer und Enttäuschungen, der mit seiner
Schwester still und einsam gelebt, der findet die Kraft und den
Mut zu folgenden Worten: „Ich seh' sie ja noch vor mir (die
jüngst verstorbene Schwester), wie sie mir oft gegenübergesessen
ist am Abend, bei der Lampe in dem Zimmer da, und hat mich
so angeschaut mit ihrem stillen Lächeln, mit dem gewissen, gott¬
ergebenen, als wollt' sie mir noch für was danken — und ich,
ich hätte mich ja am liebsten vor ihr auf die Knie hingeworfen,
sie um Verzeihung zu bitten, daß ich sie so gut behütet habe vor
allen Gefahren und vor allem Glück!“ — Der arme Violin¬
spieler, den das Leben nur betrogen, getäuscht, der erhebt sich
zu dieser rein menschlichen Höhe: das ist innere, echte Größe,
und die uns überzeugend darzustellen, ist echte, starke Kunst.
Und besehen Sie einmal den prächtigen, technischen Aufbau dieses
Werkes, die feine Gegenüberstellung der beiden Paare, von denen
das eine lächelnd durchs Leben geht ohne große Erschütterungen,
etwas leichtsinnig, gutmütig, nicht sehr talentiert, aber auch nicht
dumm; das andere geht zu Grunde, es nimmt alles zu schwer;
das Mädchen geht an dem Jüngling zu Grunde, und dieser
wieder an einer anderen Frau; sie hätten sehr glücklich zusammen
cest la vie, ou c’est la mort. Der
sein können, aber ...
alte Violinspieler bleibt allein, seine Frau ist tot, seine Schwester
und seine Tochter und seine Kunst auch, denn das Komponieren
hat er längst aufgegeben ... Wie uns Schnitzler hier einen
Ausschnitt aus unserer Zeit gab, gelang es ihm auch fremde,
verflossene Zeiten zu fassen und zu gestalten. Im „Paracelsus“
ist es mißglückt, es wurde nur eine entzückend feine, geistreiche
Plauderei, in der ein Satz steht, den wir mit goldenen Lettern
gedruckt in allen unseren Stuben aufhängen sollten: „Wir spielen
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