VI, Allgemeine Besprechungen 1, Ernst Limé, Seite 5


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Panphlets Offorints
immer, wer es weiß, ist klug.“ Auch der Versuch uns die
Renaissance vorzuzaubern gelang nicht ganz; die anfangs klare
Handlung im „Schleier der Beatrice“ wird immer verworrener,
die anfangs tiefen, einfachen Probleme immer unklarer, aber
eine Tat war es doch, dieses Werk, war es doch einmal wieder
ein Drama großen Stils mit tausend Entwicklungsmöglichkeiten,
mit tausend Aussichten; kein enger, von hohen Mauern um¬
grenzter Hof; ein Platz, von dem nach allen Seiten Wege
leiten. Der große Wurf glückte aber dem Dichter mit dem
„grünen Kakadu“, genial hingeschmissen, ganz Fresko, keine
Kleinmalerei, und das große blutrünstige Gespenst der franzö¬
sischen Revolution starrt hinter dem perversen, grotesken Lachen,
das das Stück durchzittert, bis das Lachen zum Schrei der
Verzweiflung wird, und das Spiel zum Leben und das Leben
zum Spiel. Schnitzler schrieb auch Novellen und einen Roman,
entzückend feine Werke und für ihn überaus charakteristisch, aber
— seine Dialoge
seine Dramen sind mir lieber, oder auch
(„Anatol“ und „Reigen"). Ich glaube nicht, daß seit dem Tode
Boccaccios etwas so Kühnes, Geistreiches und satirisch Hoch¬
steyendes geschrieben wurde, wie diese Plaudereien, über die sich
so viele entsetzen, und die viele andere immer und immer wieder
lesen, um immer neue Kleinodien darin zu finden, je mehr sie sich
hinein vertiefen.
Ich sprach von dem jungen, reifenden Manne, der durch
das Leben dahinschreitet mit scharfen, wachen Augen und einem
Sinn, der offen steht für all die Erscheinungen, die ihm ent¬
gegentreten, und einem Herzen, das noch Wunder fühlt, wo die
anderen, die nicht Sonntagskinder sind, nur alltägliche Vorgänge
sehen, nicht wert der Rede und Beachtung.
Vor mir liegt Arthur Schnitzlers letztes Werk; die Arbeit
eines gereiften Mannes: „Der einsame Weg“ (Ein Schauspiel
in fünf Akten). Sie ist zu reich, diese Arbeit, zu verschwenderisch;
nicht viele Werke wurden in unseren Tagen geschaffen, von denen
wir sagen konnten: sie sind zu reich. Der Dichter hat uns zu
viel sagen, zu viel schildern wollen und hat dadurch selbst den
knappen, dramatischen Aufbau durchbrochen und die Gesamtwir¬
kung zerrissen. Aber was ist nicht alles da an psychologischer
Tiefe und Feinheit, vornehm diskretem Gestaltungsvermögen
und hoch, sehr hoch stehender Lebensweisheit, die empor gestiegen
ist über den Tag und dort anfängt, wo die Fragen des kleinen
Alltagslebens aufhören, gleich brandenden Wogen zerschellen an
den granitenen Strandriesen. Als ich das Werk ausgelesen hatte,
mußte ich an die gothischen Dome denken, an die Zeit, aus der
sie hervorgewachsen sind, an die Zeit, die so schaffensfreudig
war, daß sie aus reiner Freude am Schaffen all die grotesken
Figuren und Figürchen, Fratzen und Masken schuf, wie sie uns
aus allen Ecken und Nischen der Dome anstarren und angrinsen.
Oft zerreissen sie die ruhige Monumentalität — aber möchten
ich glaube nein, denn wir lieben die Kraft,
wir sie missen?