VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1899–1902, Seite 9


box 37/2
2. Cuttings
Sonntagsblatt des Hannoverschen Conrier
M 541.
Mittelalters, kehrt nach langen Fahrten in seine Vaterstadt zurück. Er
Schnitzler vermeidet hier alles Theatralische. Wir erfahren z. B. von
beherrscht die geheimen Kräfte der Natur, Hypnose und Suggestion
dem Duell nur, daß es stattfinden wird und stattgefunden hat. Auch
weiß er für seine ärztlichen Zwecke zu verwenden. Im Hause eines ihm
daß die ehebrecherische Gattin nicht selbst auftritt, daß sie hinter der
von früher her bekannten Waffenschmieds verweilend, suggerirt er dem
Bühne bleibt, ist ein Zug wirksamster Einfachheit. Der Dialoa ist
Weibe desselben, daß sie einen Nachmittag lang wahr sprechen müsse.
meisterhaft, immer gespannt. Wundervoll ist der alte Musikant,
Nach einigen anderen Experimenten weiß er sie auch zu dem Geständniß
Christines Vater, gezeichnet. Tief erschütternd wirken die letzten Szenen
zu bringen, daß sie einst ihn, „den Paracelsus“, geliebt habe. Das
in ihrer Wahrheit,
— Christines bis zum Wahnsinn gesteigerter
Stückchen ist nicht uninteressant, es hält Leser und Zuschauer in
Schmerz.
Spannung; aber trotz der feinen, intimen Stimmung und lebendigen
Das Drama „Freiwild“ ist ebenfalls (wie Märchen) ein Thesen¬
Szenerie wirkt es doch nur wie ein launiges Zauberspiel.
stück. Es behandelt den Ehrbegriff und die Duellfrage. Ein öster¬
In technischer Beziehung ist das zweite Stück: „Die Gefährtin“
reichischer Offizier wird von einem Zivilisten geohrfeigt, weil er eine
zu loben. Der Dialog in seiner Feinheit und Tiefe erinnert an den
Schauspielerin, die dieser liebt, beleidigt hat. Der Leutnant fordert
Ibsenschen. Allein psychologisch ist das Stück kaum denkbar. Ein
den Maler. Dieser verweigert das Duell, er erklärt, daß er einen
Professor lebt lange Jahre neben seiner Gattin, obwohl er weiß, daß
Buben gezüchtigt habe. Der Offizier muß, falls er keine Genugthuung
sie ihn mit einem anderen hintergeht, ruhig und friedlich, sich ganz seinen
erhält, den Dienst quittiren. In seiner Verzweiflung schießt er den
Arbeiten widmend. Das ist an sich eine psycholagische Unwahr¬
Gegner auf offener Straße nieder. Prächtige, lebendige Menschen sehen
scheinlichkeit, vergrößert wird dieselbe noch in unserem Falle dadurch,
wir auch hier vor uns. Trotz des Tendenziösen ist kaum etwas von einer
daß der Professor nicht etwa als eine gänzlich passive oder vertrottelte
Konstruktion zu merken. In den ersten Szenen wird das lustige Leben
Natur dargestellt ist, sondern als ein thatkräftiger, tüchtiger und energischer
das Treiben einer kleinen Theatergesellschaft und der Verkehr derselben
Mann, allerdings mit resignirender Lebensanschauung. Auch dieses
mit Offizieren und Dandies geschildert. Noch hören wir das lustige Ge¬
Stück ist mehr eine interessante Plauderei als eine psychologische dra¬
plauder zwischen den Buschkaden an der Theaterthür, — da plötzlich
matische Studie.
gerathen die beiden Männer aneinander, die grelle Lohe des Hasses und
„Der grüne Kakadu“ ist das äußerlich wirksamste Stück von den
der Leidenschaft flammt auf, und nun konzentrirt sich die Handlung:
dreien. Es spielt in Paris am Abende des Sturmes auf die Bastille.
aus dem Getändel wächst ein Schicksal empor, das nicht mehr zu bannen
Heruntergekommene Schauspieler, degenerirte Adlige versammeln sich
ist. Wie ein Dämon verfolgt die angethane Schmach den Offizier.
täglich in einer Spelunke „Der grüne Kakadu“. Die Schauspieler unter¬
Seltsam, daß dieser feste Charakter, Rönning, der Gegner des Offiziers,
halten die Gäste mit der Aufführung von Verbrecherszenen. Aus dem
keinen Ausweg fand. Er hatte beschlossen, mit der Geliebten den Ort
Scherz wird Ernst. Der Schauspieler Henry spielt soeben die Komödie
zu verlassen, da hört er, daß der Gegner ihm auflauere. Sein Trotz
vor, wie er seine Frau ermordet habe, weil sie untreu gewesen sei. Da
erwacht, er will nicht feige sein — er bleibt und läuft dem Feinde vor
hört er, daß sie in der That untreu gewesen sei, nun ersticht er sie wirklich.
die Pistole. Dieser allzu feste und darum brüchige Charakter ist dem
Auch hier wird aus Spiel Ernst, mischt sich Leben und Dichtung.
Dichter besser gelungen, wie der inkonsequente Felir Denner. Man hat
Ein Meisterstück der Seelenschilderungskunst, ein stilistisches Kunst¬
die Auseinandersetzung über das Duell zwischen Rönning und einem
werk ersten Ranges ist die Novelle: „Sterben“. Es giebt nur ein Prob¬
seiner Freunde getadelt. Sie gehört aber in dieses zeitgemäße Tendenz¬
lem: das Sterben! Das ist das furchtbare Räthsel, das letzte Unge¬
stück hinein, auch war sie wichtig für die letzte Entwickelung der Hand¬
heure, die unbegreifliche Unnatürlichkeit, die Menschen von Menschen,
lung. Erst durch sie erhalten wir ein vollkommen klares Bild von dem
Liebe von Liebe trennt. ... Wir empfinden allmählich, wenn wir an
Charakter und Wesen Rönnings.
dem Bette eines dem Tode Verfallenden weilen, wie dieser mehr und
Schnitzlers im Jahre 1898 erschienene Schauspiel: „Das Ver¬
mehr aus unserer Empfindungswelt weicht. Aus unserer Liebe wird
ist eine etwas gröbere Arbeit wie die bisherigen. Trotz der
mächtniß“
Mitleid und Schmerz, und Mitleid und Schmerz erkalten, und stärker und
psychologischen Feinheiten in einzelnen Szenen scheinen mir die Charak¬
stärker erwacht in uns wieder der Drang zu den Lebendigen, in das
tere und ihre Handlungen hier nicht so glaubwürdig, so psychologisch fein
Und das liegt auch an dem Sterbenden. an seiner wachsen¬
Leben.
und wahr entwickelt zu sein wie in den früheren. Schnitzler hat die
den Feindseligkeit den Gesunden gegenüber, an seinem Egoismus:
Farben zu stark aufgetragen um des äußeren Effektes wegen. Das feine
Diese Psychologie eines Sterben¬
er möchte das Liebste mitnehmen.
Milieu wird zerrissen durch einige karrikaturenhaft grob gezeichnete
den und des Lebenden am Krankenbette giebt Schnitzler in seiner Novelle
Charaktere (Professor Losatti, Dr. Ferdinand Schmidt). Ueber andere
„Sterben“. Felir sagt der Geliebten, daß er sterben müsse — an der
Charaktere wird man sich nicht klar. Wenn dies auch sogar nicht nur
Schwindsucht. Da schwört sie ihm, mit ihm sterben zu wollen; er.
nebenbei handelnde Personen betrifft, wie die Frau Professor Losatti,
noch halb gesund, verzichtet auf dieses Opfer; aber je näher er den Tod
so ist das ein schlimmer Fehler. Man weiß wohl, aus welchen psycho¬
kommen sieht, desto öfter erinnert er sie an ihren Schwur, — desto nach¬
logischen Gründen ein so schwankender, unklarer und unselbständiger
denklicher wird Marie, und sie sehnt sich schließlich mit aller Inbrunst
Charakter wie Betty Losatti entstehen konnte. Hier hat aber eine viel¬
wieder ins volle blühende Leben. ... Als er plötzlich stirbt, flieht
leicht allzu große Feinheit fehl gegriffen, und jedenfalls nichts Lebendiges
Dies ist der schlichte Inhalt. Aber
sie aus dem Sterbezimmer.
geschaffen. Das „Vermächtniß“ des jungen Dr. Losatti, der beim
die ganzen Seelenkämpfe zwischen zwei Menschen bis zur Entfremdung,
Reiten verunglückt ist, ist seine Geliebie Toni und sein kleiner Sohn,
bis zum Haß, bis zum Wahnsinn bei beiden fliehen an uns vorüber ....
die er sterbend seinen Eltern ans Herz legt. Die Eltern und Ver¬
Und wie fein ist dieser der Christine ähnlich geartete Mädchencharakter
wandten nehmen sich, wenn auch mit sichtbarem Widerstreben, der von
Wien im Schmucke des Frühlings und Sommers
geschildert.
Schmerz gebrochenen Toni und ihres Söhnchens an. Als das Kind,
bilden den stimmungsvollen Hintergrund.
dessen Tod uns der kluge Dichter vorausahnen läßt, da er jenes schon
Auch in seinen übrigen Novellen in dem Buche „Die Frau des
als krankes und schwächliches Kind einführt, gestorben ist, lösen sich
wieder die schnell geknüpften Bande. Der geschwätzig egoistische und
Weisen“ beschäftigt sich der Dichter viel mit dem Problem des Sterbens.
Die Menschentypen sind hier dieselben wie in den Schnitzlerschen
brutale Professor (Vater Losatti) und der grobe, plumpe Schwiegersohn
Dramen: der leichtlebig=melancholische Liebhaber, das süße Wiener
in spe desselben jagen das arme Mädchen aus dem Hause. — Gerade
Mädl und die liebenswürdige und keiner Sünde sich bewußte ehebreche¬.
diese beiden Männer hat der Dichter zu stark gezeichnet, trotzdem verrathen
rische Frau. Die erste Novelle, die dem Buche den Namen giebt, ist
diese beiden Typen das geschulte Beobachtungstalent des Dichters. Das
trotz des Stimmungsgehaltes schwach, weil sie mit einer feuilletonistischen
Milieu ist ungemein fein und sicher der Wirklichkeit entnommen. Hier
Poite endet. Die Novelle „Ein Abschied“, „Der Ehrentag“, „Blumen“.
und dort hätte der Dialog kürzer sein können.
„Die Todten schweigen“ sind Seelengemälde voll erschütternder Tragik
Die drei Einakter „Paracelsus“, „Die Gefährtin“ und „Der grüne
und tiefer Stimmung. „Die Blumen“ erinnern an Theodor Storms
Kakadu“ hängen innerlich, — also etwa durch eine Idee, die sie in
stille, lyrische Erzählungen, „Die Todten schweigen“ an gewisse, das
verschiedener Fassung darstellen könnten — kaum zusammen. Ich habe
Grausige und Unheimliche mit Vorliebe schildernde slavische Novellisten.
dennoch hier und dort in allen drei Stücken ähnliche Sentenzen gefunden,
Schnitzler wird kaum von seinem ursprünglichen Wege abirren
etwa des Sinnes, daß das Leben so flüchtig ist, daß unsere Sinne uns
dürfen. Nur allmählich darf er Fremdes mehr und mehr in seine Kreise
so täuschen, so daß wir nur den Augenblick als unser ansehen können,
hineinziehen. So wächst er und bleibt doch immer der Gleiche: der
so daß Traum und Sinnesspiel, Illusion und Vorstellung ebenso wirklich
feine und ehrliche Künstler, der gewisse Zeitstimmungen und Menschen¬
zu sein scheinen, wie die vom Willen bestimmte Handlung. Paracelsus
typen der Großstadt Wien, der Hauptstadt Oesterreichs mit Meisterschaft
spricht diese Ideen ziemlich deutlich aus. Dieses Stück gewährt uns einen
darzustellen vermag, der, hingegeben dem modernen Leben, auch dem
flüchtigen Einblick in die Seele eines Menschen, der halb Dichter und
Feinde alles Lebens, dem Tode, tiefe, empfindungsvolle Dichtungen ge¬
Denker, halb Abenteurer ist. Theophrastus Bombastus von Hohenheim,
genannt Paracelsus einer der aufgeklärtesten Menschen des späteren! weiht hat.