VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1899–1902, Seite 22

1902.
„DER AUTOR“. ZEITSCHRIFT FUR LITERATUR UND KUNST,
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wicklung, die man in ihrer detaillirten Darstellung am liebsten mit
können. In Anatol schildert Schnitzler den Dekadenztypus des Lebe¬
den Radierungen Chodowieckis vergleichen möchte. Felix ist sehr
mannes von heute, jene eigentümliche Mischung von Blasirtheit und
leidend, er weiss es von einem Professor, dass er höchstens ein Jahr
Sehnsucht, schildert ihn mit einer Meisterschaft, die den ausgezeich¬
noch leben wird. Alfred der ihn stets behandelt hat, war zu sehr sein
neten Kenner des menschlichen Herzens beweist. Schon hier zeigt
Freund, als dass er’s dem Kranken enthüllt hätte. Im Prater unten
sich, wie der Dichter aus seinen Kenntnissen, die er als Arzt gewon¬
sagt es Felix seinem Mädel, seiner Marie: -Es ist erbärmlich, dass ich
nen, reichen Nutzen für die Poesie zu ziehen weiss, — im Gegen¬
Dir’s überhaupt sage, und sogar dumm. Aber weisst Du, es ganz
satze zu jenen, leider nur allzuvielen, denen das medizinische Studium
allein zu wissen und so einsam herumzugehen, ewig mit dem Ge¬
den Rest jeder edleren Empfindung genommen und sie, um mit
danken — ich hätte es ja wahrscheinlich doch nicht lange ausgehalten.
Hyrtl zu sprechen, zu Folterknechten der Wissenschaft gemacht hat.
Vielleicht ist es sogar gut, dass Du dich daran gewöhnst.: Aber es
Freilich so zarte Regungen, wie sie Schnitzler hier blosslegt, so ge¬
kommt die Stunde, wo Felix es nicht nur nicht allein wissen will, woer
heime Triebe, sind kein Bissen für jene Moralisten, denen ein allge¬
auch nicht allein sterben will. Es kommt die Zeit, wo Marie an¬
mein-menschlicher Standpunkt überhaupt fremd ist — oder sein muss.
fängt, sich vor dem Geliebten zu — fürchten. Sie hat es ihm freilich
Solche Leute werden freilich nie ein Verständnis für die Analyse der
oft versprochen gehabt, ihn nie zu verlassen, aber jetzt, wo sie täglich
menschlichen Leidenschaften, wie sie Schnitzler in seinen Werken
das Sterben sieht, das langsame Sterben, da ist in ihr die Liebe zum
durchführt, haben wollen, denn wer von der Dummheit anderer lebt,
Leben mehr erwacht als je. Es kommt der Augenblick, wo sich Marie
hat gewiss ein Interesse daran, dass dieselbe erhalten bleibe.
in der fürchterlichen Umklammerung des Sterbenden fühlt und seine
Den Künstler erkennt man am besten in seinen Werken, den
Worte hört: zusammen, zusammen! Es war ja Dein Wille! lch hab'
Dichter in seinen Schriften. So wäre es am zweckentsprechendsten,
Furcht, allein zu sterben! Aber sie entwindet sich und flieht. Als sie
die Dichtungen Schnitzlers hier der Reihe nach zu besprechen, seine
mit Alfred wiederkehrt, finden sie Felix auf dem Boden liegen-, im
Schauspiele-Das Märchen-, Liebelei-, -Das Vermächt¬
weissen Hemde, lang ausgestreckt, mit auseinandergespreizten Beinen
nis, Der grüne Kakadu-,=Die Gefährtin=, -Paracel¬
und neben ihm ein umgestürzter Sessel. Vom Munde floss ein Streifen
sust,-Der Schleier der Beatrice- und -Lebendige Stun¬
Blut über das Kinn herab .... In keinem anderen Werke spricht so
den-, seine Novellen =Sterben-,=Die Frau des Weisen-,
viel der Arzt mit, aber nicht der Arzt, der über das Studium der
Ein Abschied-,-Der Ehrentag-, -Blumen-,=Die Toten
Materie für die Regungen der Seele blind geworden ist, nein, der
schweigen-,Lieutenant Gustl-, seinen Roman Frau
Arzt, der die Empfindungen des Herzens nicht minder kunstvoll zu
Bertha Garlan.-
zerlegen weiss, wie etwa seine Objecte am Secirtische.
Man sieht, das erlaubt schon der Raum nicht. Aber noch etwas
Spricht hier Schnitzler in der gewöhnlichen Form des Erzählers, so
anderes ist zu bedenken. Die Wiedergabe jener Dichtungen in kurzen
begegnen wir ihm als Tagebuchschreiber in Die Frau des
Umrissen, selbst in den, gewähltesten Worten, muss wie eine Profa¬
Weisen.: Ein unendlich zarter Hauch liegt über dieser Novelle
nation wirken gegen die Originale, in denen meist alles so zart, so
und wieder ist das Sujet mehr innerlicher als äusserlicher Natur. Ein
bis ins kleinste Detail mit feinster Beobachtungsgabe in treffender
junger Doktor, — fast in jedem Werke Schnitzler finden wir einen
Weise durchgeführt ist. Am besten freilich wäre es für jeden, einfach
Doktor der Medizin, — und die schöne Frau eines Professors, in
Schnitzler zu lesen, — aber das Publikum von heute ist so bequem,
dessen Hause der junge Mann einst gewohnt, treffen sich nach sieben
schon auf den Umschlagschleifen muss der Inhalt des Buches stehen,
Jahren in einem Seebade. Sie ist schöner als je und hat nun einen
und dann, es ist ja auch wirklich so viel zu lesen, dass man dazu
kleinen, vierjährigen Buben. Jetzt steigen dem Doktor Erinnerungen
unmöglich Zeit haben kann. Da gibt’s eben nur eines — Potpourris.
auf an jene Stunde, als er abreisen sollte und schon seine Koffer gepackt
Wie mancher ist schon in eine Oper gegangen, weil ihm ein Pot¬
standen, als jene Frau zu ihm herauf ins Zimmer gekommen, ihn
pourris daraus gefallen hat, obwohl’s ja auch eine Profanation war,
geküsst und in stummer Sehnsucht zu seinen Füssen gesessen war.
zumal etwa bei Wagner.
Damals hatte er mit Schrecken bemerkt, wie sich die Tür öffnete und
So betrachten wir zuerst Schnitzler als Epiker. Am bekanntes¬
der Professor eintreten wollte. Wollte, denn im nächsten Augenblicke
ten ist wohl seine novellistische Studie -Lientnant Gustl=, wegen
war er verschwunden gewesen. Jetzt hörte die Frau ein Geräusch,
der Schnitzler, da er Oberarzt in Evidenz war, im Sommer vorigen
angsterfüllt springt sie auf und der junge Mann reist ab... Nun liegt
Jahres von einem militärischen Ehrenrate seiner Offizierscharge ver¬
dieses Geheimnis wie ein süsses Fluidum zwischen beiden. Bei einem Aus¬
lustig erklärt worden ist. Der Inhalt der Studie ist sehr einfach, aber
fluge nach einer benachbarten Insel bricht die Liebe wieder hervor.
für die Verhältnisse ungemein bezeichnend. Lieutnant Gustl hat im
Heute Abend fahren wir zusammen aufs Meer hinauss, ladet die
Konzert ein Rencontre mit einem energischen Zivilisten, einem Bäcker¬
Frau ihn ein, wir werden uns ins Meer hinaustreiben lassen — und
werden allein sein — — Warum redest Du nicht ?e sIch bin glückliche
meister. Es kommt zu Beschimpfungen, der Offizier will den Säbel
ziehen, aber der Zivilist hält ihm mit eiserner Faust den Griff und
sagt er, aber er schaudert im Innern vor dem, was er aus ihren Reden
meint: -Herr Lieutnant, wenn Sie das geringste Aufsehen machen,
entnommen. Er hatte gedacht, der kleine, vierjährige Bub’ bedeute
eine Versöhnung zwischen Mann und Frau seit jener Scene. Aber
so zieh' ich den Säbel aus der Scheide, zerbrech’ ihn und schick'’ die
Stück' an Ihr Regimentskommando. Versteh'n Sie mich, Sie dummer
sie wusste es bis heute nicht, dass er sie damals gesehen. Der
Weise hatte ihr verziehen, — und sie ahnte es nicht einmal. Um
Bub’?e Lieutnant Gustl verbringt eine qualvolle Nacht, er irrt im
Prater umher und schläft auf einer Bank ein. Wenn das Regiment
neun Uhr Abend sollten sie sich am Strande treffen, — aber der
von der ganzen Geschichte erfährt, muss er quittiren. Es bleibt ihm
Doktor sitzt um diese Zeit im Coupé des Zuges, der ihn schon weit
nur ein Ausweg, eine Kugel durch den Kopf. Als der Lieutnant sein
entführt hat
Nicht minder beweist uns Ein Abschiede den echten
letztes Frühstück im Cafehause zu nehmen meint, erzählt ihm der
Dichter, der manches sieht, was anderen verborgen bleibt.
Kellner, den Bäckermeister hätte gestern Abend der Schlag getroffen,
Der Geliebte steht an der Leiche der Frau, die sich ihm ge¬
er sei tot. Nun ist Gustl gerettet..
schenkt hatte. Ihr Mann kniet am Bette und schluchzt. Da ist’s dem
Aber wie das gemacht ist. Wie originell. Das ganze ein einziger
anderen, als spielte ein eigentümliches Lächeln um die Lippen der
Monolog von 12 Stunden. Eine wunderliche Mischung von epischer
Toten, das ihm sagt: Ich habe Dich geliebt und nun stehst Du da
und dramatischer Form, äusserst lebendig und wirksam. Und welche
wie ein Fremder und verleugnest mich. Sag’ es ihm doch, dass ich
beissende Satyre zwischen den Zeilen! O die Nase!e meint Gustl im
die Deine war, dass es Dein Recht war, vor diesem Bette nieder¬
Gewühl nach dem Konzerte, als er die Leute betrachtet, Jüdin! Noch
zuknieen und meine Hände zu küssen. Sag’ es ihm!: Aber er eilt
eine. Es ist doch fabelhaft, da sind auch die Hälfte Juden.
beschämt davon, „denn ihm war, als dürfte er nicht trauern wie die
nicht einmal ein Oratorium kann man mehr in Ruhe geniessen.-
anderen, weil er sie verleugnet.-
Auch in der Novelle -Sterben-, die 1805 bei S. Fischer in
Und dieselbe eindringliche Kraft des Ausdruckes mit seelenauf¬
Berlin erschien, ist es nicht etwa eine grosse, welterschütternde Hand¬
wühlender Gewalt finden wir in allen anderen Erzählungen und Novellen
lung, die den Reiz des Ganzen bildet, sondern vielmehr ein sehr
Schnitzlers, wir vermissen nirgends den feinsten Beobachter psycho¬
einfachest fast dürftiges Sujet, nur drei Personen, ein Wiener-Hinter¬
grund natürlich, — aber eine Feinheit in der psychologischen Ent-I logischer Conflikte, den eine Kritik geradezu den -Entdecker des mensch¬