VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1899–1902, Seite 26

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2. Cuttings
im General=Anzeiger für die gesamten Interessen des Judentums.
1. Jahrgang.
Berlin, Donnerstag, den 13. November 1902.
S


hat diese beiden Typen eigentlich für die Kunst entdeckt.
Kunst nicht genügen, weil sie nicht von heute ist. Sie wollen
Selbst wo er andere Charaktere in den Vordergrund stellt,
die eine und die andere nicht missen. Sie wollen beides,
füllt jene Welt wenigstens den Hintergrund. Die elegante
die österreichische Farbe und den Geruch des Tages.“
Wiener Gesellschaft, mondaine Damen, Offfziere, Studenten
Diese Dichter haben eine ängstliche Scheu vor der Wahrheit.
und Lebemänner mit ihren „Liebeleien“, Schauspielerinnen
Sie wagen dem brutalen Zeitgeist nicht entgegenzutreten.
und die „süßen Mädel der Vorstadt, das ist die begrenzte
Sie leben in Träumen und Stimmungen. Sie lieben das
„leichtsinnig=melancholische“ Welt des Dichters, — das
Augenblickliche, die feinen Genüsse der Seele. Bilder,
war seine Welt! wir werden sehen, wie er seit einigen
rTraum.
Phantasieen, Reflexionen, Stimmungen in der Form von
Jahren danach ringt, sein Gebiet zu erweitern.
nschein
Novellen, Skizzen, dramatischen Seenen und zarten
Immerhin sind die „Anatol=Szenen“ und „Die
ium:
lyrischen Gedichten — das ist ihre Kunst!
Liebelei“, frühere Dichtungen Schnitzlers, auch heute
Süd,
Noch ein anderes Wesen offenbart sich in alledem:
nicht seine eigenartigsten und dramatisch wirksamsten. Die
die meisten, wenigstens die bekanntesten und begabtesten
Anatol=Szenen hängen nur lose mit einander zu¬
dieser Dichter sind Juden. Die hohe Kultur ihres
sammen. Sie behandeln die einzelnen Liebesabenteuer des
Volkes offenbart sich in ihren Schriften, aber auch
jungen Anatol. Die zweite Figur, die fast in allen See¬
ein melancholischer, kritischer Geist, eine tiefe Skepsis
nen wiederkehrt, ist der Freund, ebenfalls eine typische
neben einer aus unverstandenem Herzen plötzlich und jäh
Figur. Er ist der verständige, kaltherzige und maßvolle
star
emporquellenden weichen Empfindung. Es ist eine re¬
Pylades, jener der weichherzige Enthusiast und Schwäch¬
signierende und geistvolle sinnreiche Kunst der Träume,
ling, der rechte Repräsentant der Dekadence. Langsam zer¬
Garben
Stimmungen und Allegorien, eine von jeder groben Sinn¬
pflückt Anatol eine Illusion nach der anderen. Immer wieder
Morgeng
die
lichkeit freie und daher geistig vornehme Kunst,
lockt ihn das Leben und die Liebe; aber immer wieder muß
schauten
gerade in diesem Wesen die Eigenart des süddeutschen ge¬
er entnüchtert zu sich zurückkehren. Er verliert schließlich
hn.
bildeten Juden zeigt.
den Glauben an alles, vor allem an sich selbst. Zu einer
guten.
ernsten Arbeit ist er nicht mehr fähig. Seine Liebesver¬
Der glücklichste und begabteste Dramatiker des jungen
hältnisse mit Kokotten und jungen Frauen werden in den
dem Land;
Wien ist jedenfalls Arthur Schnitzler Seit den
einzelnen Szenen in graziösen Dialogen geschildert. Einmal
edanken,
erfolgreichen Aufführungen seines Dramas „Liebelei“ an
findet er ein wirkliches letztes blasses Glück draußen auf
hand
den besten europäischen Bühnen, gehört er zu den inter¬
der Vorstadt: das „Süße Mädel“. In der Darstellung
Blumenranken.
nationalen Berühmtheiten. Er ist am 15. Mai 1862 in
dieses Verhältnisses entdecken wir die liebenswürdigsten
Wien geboren. Sein Vater war der bekannte Professor
ein
Züge Anatols und seines Dichters. Mit wunderbarer In¬
der Laryngologie. Der junge Schnitzler studierte Medizin
serer Baum -
nigkeit weiß Schnitzler diese schlichte Mädchen aus dem
sein,
in Wien, war darauf eine zeitlang am Krankenhaus in
Volke zu schildern. Anatol liebt das seine mit der ganzen
er Traum.
Wien und später an der Poliklinik tätig. Seit etwa zehn
Zärtlichkeit seiner sehnsüchtigen Seele. Er schwärmt von
Jahren lebt er als praktischer Arzt in Wien. Schnitzler hat
Dolorosa.
ihrem kleinen Zimmer draußen auf der Vorstadt mit den
von frühester Jugend an geschrieben. In die Oeffentlich¬
Blumentöpfen am Fenster und der Aussicht auf all die
keit ist er spät getreten. Die ersten Novelletten, Gedichte,
vielen Dächer. Uebrigens wird man bei Schnitzler nie
Dialoge veröffentlichte er 1886 und 1889 in der Zeit¬
zler.
eine Frivolität finden. Seine Helden empfinden die Liebe'
schrift „An der schönen blauen Donau.“
nicht als Sünde. Sie leben mit Anmut und Elegance den
Nicht alles, was Schnitzler geschrieben hat, ist gleich¬
Traum einer untergehenden Welt zu Ende.
e Poesie der feinen,
wertig. Bahr charakterisiert ihn sehr richtig in seinen
Ich übergehe das nächste Werk Schnitzlers, das Dra¬
ice, der zarten und
„Studien“ (Verlag Rütten & Loening, Frankfurt a. M.):
ma: „Das Märchen“. Es ist sowohl in der Charak¬
är die Kunst, weniger
„Was er bringt, ist nichtig. Aber wie er es bringt, darf
teristik der Personen und in der Technik mißlungen. Es
ffrischen oder innigen
gelten. Die großen Züge der Zeit, Leidenschaften, Stürme,
ist ein Thesenstück, das wenig Ueberzeugungskraft hat.
läßt sich in ihr der
Erschütterungen der Menschen, die ungestüme Pracht der
Das Drama „Liebelei“ hat den Dichter berühmt
ken, jenes süddeutsche
Welt an Farben und an Klängen ist ihm versagt. Er
gemacht. Ich will es in kurzen Zügen zu charakterisieren
de, sanguinische und
weiß immer nur einen einzigen Menschen, ja, nur ein ein¬
suchen In diesem Stücke erscheinen neben speziell wiener
nn Bahr, einer ihrer
ziges Gefühl zu gestalten. Aber dieser Gestalt giebt er
deutsche Volkstypen. Christine ist eine der lieblichsten Mäd¬
se Dichter etwas pa¬
Vollendung.“ Seine Eigenart ist die Grazie, mit der er
chengestalten, welche die moderne Poesie geschaffen hat. Sie
ber österreichisch von
alles ezählt und hinplandern läßt, der feine Dialog und
ist das naiv liebende Mädchen mit der reinen, ungetrübten
ig, der sie über das
eine einfache doch charakteristische Sprache. Er liebt dann
Seele. Ihre erste Liebe muß ihr zum Verhängnis werden.
der vor den französi¬
und wann die geistreiche Phrase, ja, er verschmäht die kon¬
Als männliche Hauptcharaktere treten wieder der Liebhaber
.. Sie können sich
ventionelle Pose nicht. — Seine künstlerische Welt ist die des
nügen, weil sie nicht
Wiener Lebemannes und der Wiener Grisette. Schnitzler und der Freund auf. Der Freund ist hier ebenfalls Lieb¬
n der österreichischen
in diesem Aufsatz vermissen. Man sieht es ihm an, daß
Judenheit gegeben werden, wie ich ganz unabhängig davon
da Satz an Satz ohne inneren Zusammenhang gereiht wurde,
anach“.
meine Anschauungen über das Wesen des „Jndentums“
nur weil der Verfasser dem feinem Essaisten Brandes nach¬
niederschrieb. O. Thon giebt Betrachtungen über „das
ahmen sollte. Es ist da alles maniriert und von einem
discher Kalender dar¬
Problem der jüdischen Wissenschaft“, indem er das bisher
Nachempfinden des Dichters keine Spur. — Bialik ist genau
chblättert und dann

TTRRER
Wcecfent gen Sclom. 11—,
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