VI, Allgemeine Besprechungen 1, Hans Landsberg, Seite 4

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ergeht an das Genie gleichsam der Befehl, seine Ab¬
stammung, seine Zeit, ja in gewissem Sinne selbst seinen
Charakter zu verleugnen und zu bekämpfen. Der geniale
Mensch muß sich erst alle Möglichkeiten schaffen, deren
er zur Verwirklichung seiner Ideale bedarf. Eine Welt,
in der er leben kann, eine Dosition, die ihm Macht¬
mittel in die Hand gibt, eine Persönlichkeit, die im¬
stande ist, jeden scheinbaren Trotz des Schicksals in einen
Glücksumstand zu verwandeln. So bestand Goethes
heroische Lebensaufgabe darin, den Dämon in seiner
Brust zu bewältigen, verheerende Leidenschaften in lebens¬
starke Gewalten umzusetzen, durch Liebe, Tätigkeit und
eine immer stärkere Konzentrierung des Persönlichen
zur Wesenheit der Welt und zur letzten Ergründung
des Menschlichen zu gelangen.
Feminine Naturen hingegen wachsen durchaus hervor
aus der Kultur ihres Landes und ihrer Zeit, die sie
nicht gleich dem vorbedeutenden Genie geschaffen haben.
die sie vielmehr erst durch ihren Zusammenschluß bilden
und stützen. In ihrer durchaus sozialen Veranlagung
bildet das Individuelle eine Note, nicht den eigentlichen
Wesenskern. Den mag man getrost in der sozialen
Ofrche der Zeitgenossen suchen, die ihn völlig ein¬
gefangen hölt und in seinen künstlerischen Leistungen
bis auf die Nuance bestimmt. Solche Menschen werden
nicht, sie sind. Weshalb sie auch niemals Charaktere
darstellen, die im Kampfe mit der Umwelt ihre Lebens¬
energie erproben und als Sieger oder Besiegte aus
diesem Streite hervorgehen. Dielmehr bilden sie Menschen
ab, deren Existenz durchaus mit der Umgebung zusammen¬
fließt. Menschen, die leben, genießen, trauern oder ver¬
kümmern, weil das Leben sie mit sich reißt. In der
Anschauung dieser Dichter führt also das Leben Tra¬
gödien auf, hat das Schicksal seinen Spott mit dem
wlehrlosen Menschen. Ganz entsprechend liegt die
Totalität der Dichtung in der Handlung, nicht in
gleichgestimmten Charakteren, die ein Stück Handlung
erleben.
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Am charakteristischsten zeigt sich dieser Typus der
Literatur in der österreichischen Doesie, die fast ebenso
stark nach Wien tendiert, wie die französische pariserisch
ist. Sie ist Literatur im höchsten Sinne des Wortes,
aber eben doch nur Literatur, das heißt der geistige Nieder¬
schlag einer alten und hochstehenden Kultur, deren Ueber¬
legenheit wir Norddeutschen neidlos anerkennen, nicht
aber der Versuch, diese Kultur wieder zur Natur herauf¬
zuführen, wie es die moderne Dichtung in ihren größten
Repräsentanten will. Die Wiener Dichtung liebt die
mittleren Zustände, in denen die Menschen ihr Leben
hinführen; sie vergoldet sie mit dem Schimmer hoher
Träume, schwängert sie mit dem Duft frohen Genießens.
Dazwischen eine melancholische Note, die über den Sinn
des Daseins reflektiert, aber doch meist im natürlichen
Umkreis des Dargestellten verweilt; hingegen die eigentlich
deutsche Dichtung, und vorzugsweise die norddeutsche,
bemüht ist, menschliches Erleben bis an die Wurzeln
zu verfolgen und andererseits, vom Willen geleitet, bis
zum Göttlichen in der Menschenbrust aufwärts zu führen.
Sehr treffend hat man die österreichische Dichtung
mit der romanischen verglichen, denn zwischen ihr und
der germanischen Doesie besteht der gleiche Gegensatz
wie zwischen dem romanischen Stil und der Gotik.
Hier, in der Gotik hochstrebender Ofeiler, die den Trieb
ins Unermeßliche versinnbildlichen, Charakter und Persön¬
lichkeit, die die Form verachten und vernichten, eine Phan¬
tasie, die, im Irdischen wurzelnd, tausend neue Möglich¬
keiten entdeckt. Dort eine Kunst, die das Leben in stille,
ruhige Formen zwängt und zuerst darauf aus ist, ihr
feste Grenzen, bindende Formen zu geben. Jetzt also
ist die Dhantasic des Künstlers an die Normen eines
feststehenden Tppus gebunden, nicht aber an die un¬
endliche Freiheit des Lebens.
Ganz so hebt die französische Dichtung ihren Dor¬
wurf völlig aus der Lebenssphäre heraus, sodaß er als
selbständiges Gebilde auftritt, in dessen Ausgestaltung der
Dichter frei schalten darf. Das gibt seinen Schöpfungen