VI, Allgemeine Besprechungen 1, Hans Landsberg, Seite 7

PamrhletsOfforints
Leben ein Spiel, kein Kampf. Sie lebt in Gefühlen
und Erinnerungen, nicht im Wollen und im Zu¬
künftigen. Sie ist nicht trächtig von neuen Welten und
neuen Menschen, denn mit dem Frühlingshauch ver¬
spürt sie bereits vorahnend den Herbst, der alle jugend¬
frohen Keime zu Grabe trägt. Modern ist das Leben,
das diese Kunst wiederspiegelt, nicht die Kunst selbst.
Sie nimmt vom Leben nur das an, was ihrem Aestheti¬
zismus entspricht, statt wie die wirklich moderne Dichtung
an eine unmittelbare Bewältigung des Lebens zu denken.
Unter den modernen österreichischen Doeten ist Arthur
Schnitzler zweifellos der begabteste. Nur Hofmanns¬
thal, als Repräsentant eines höheren künstlerischen
Typus, kommt neben ihm ernstlich in Frage. Schnitzler
ist darum literarpspchologisch so interessant, weil er
über das Oestreichertum, das er in seinen Gliedern
spürt, hinausstrebt, um zu einer Dichtung großen
Stils und starken Lebens zu gelangen. Wenn Einer,
so erkennt er die Begrenzungen einer Kunst, die ihm
Ansehen und Erfolg verschafft hat, und verspürt in sich
den Höhentrieb des entwicklungsfähigen Menschen, der
graß genug ist, eine Welt zu verlassen, die er ganz besitzt.
In dem Spott, mit dem er wieder und wieder in
seinen Dialogen und Lustspielen das Literatentum ge¬
geißelt hat, glaube ich mehr als bloße Satire zu sehen.
Es ist das Selbstbekenntnis eines Menschen, der sich
durch das gewaltsame Mittel der Ironie von Zuständen
und Anschauungen, in die ihn sein Beruf gestellt hat,
losreißen will und zu einer freieren und höheren
Menschlichkeit aufstrebt. So hat Goethe in seinen
Jugendwerken nach und nach den Sturm und Drang,
die Wertherstimmung, den Rousseauismus überwältigt,
um zu Eigenem zu gelangen.
Was bei Schnitzler so ungemein wohltuend be¬
rührt, ist die weiche, leise Art, mit der er aus dem Leben
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nur das wegstreift, was in der künstlerischen Darstellung
als stilwidrig berühren würde. Etwa wie wir Menschen,
die uns nahe stehen, am liebsten in einer ganz bestimmten
Haltung sehen, die ihr Wesen am klarsten ausspricht.
Schnitzler ist nicht der Mann starker Accente. Er
unterstreicht nicht, er liebt es eher, erraten zu lassen.
kennt keine wesentlichen Zustände des Menschen,
vielmehr läßt er ihn, ganz in eine Stimmung ein¬
tauchen, in der die Konturen seines Wesens ver¬
schwimmen. „Der Mensch ist ungleich, ungleich sind die
Stunden“, heißt es im „Faust“, das mag als Motto für
Schnitzlers gesamte Dichtung gelten, die gern eine
Lebensepisode vor uns ausbreitet, die geschaffen ist,
seelische Lichter aufleuchten zu lassen, die ein anderer
Tag verhüllt.
Es begegnet uns bei ungleich größeren Dichtern,
bei Hebbel, Ibsen, Maeterlinck, daß wir ein Stück
weiblicher Ospchologie als falsch empfinden, etwa als
eine Orojektion des männlichen Ideales am Weibe.
Bei Schnitzler wird uns das nie passieren. Seine
Menschen handeln und sprechen ganz aus ihrer eigensten
Lebenssphäre heraus, und im kleinsten Detail empfinden
wir die Notwendigkeit grade dieses Zuges. In einer
Zeit, wo die Brutalität als poetische Licenz empfunden
wird und eine heikle Situation gern bis auf den letzten
Rest ausgebeutet wird, ist dieser seelische Adel, der
unsere Dichtung auch da begleitet, wo sie die Nacht¬
seiten des Lebens beleuchtet, nicht hoch genug ein¬
zuschätzen.
Und verstärkt wird diese Spmpathie durch eine
hohe Bildung, die gleichfalls nicht zu den starken Seiten
der modernen Dichtung gehört. Eigentlich erscheint es
ja selbstverständlich, daß der Dichter zum mindesten die
Bildung seines Dublikums besitze. Das ist aber
verhältnismäßig selten der Fall. Unter Bildung ver¬
stehen wir hier natürlich nicht ein großes Wissen, eine
starke Belesenheit, vielmehr die eigentlichen Lebens¬
formen, den gesellschaftlichen und individuellen Takt, der