1. Panphlets, Offprints
III.
Derselbe Dichter, der hier das wahrhaft Tragische
so klar erkannte und zu gestalten wußte, hat nicht
weniger als drei Thesenstücke geschrieben, die eigentlich
allem widersprechen, was hier zu seinen Gunsten gesagt
wurde: „Das Märchen“ noch vor der „Liebelei“ ge¬
schrieben (die 1895 ihre Erstaufführungen an der Wiener
Burg erlebte), „Freiwild“ (Deutsches Theater, 1896),
„Das Vermächtnis“ (Deutsches Theater, 1898).
„Das Märchen“ ist ein herzlich schwaches Stück,
langatmig, unsicher, quälend, mit einer Ueberfülle von
Dersonen behaftet, die man sich gerne wegwünscht.
Fedor Denner, Schriftsteller, Revolutionär, für seine
dreißig Jahre auffallend unreif, will das Märchen von
dem gefallenen Weibe durch die Oraxis beseitigen,
indem er es unternimmt, eine junge Schauspielerin mit
einer Vergangenheit zu heiraten: „Wenn uns so ein
Wesen entgegenkommt, das geirrt, geliebt wie wir,
dann darf sie nicht einmal verlangen, daß wir an ihre
Liebe glauben? . . . Ja, aber merken Sie denn nicht,
daß wir sie erst damit erniedrigen, ihnen damit die
Rückkehr unmöglich machen, sie tiefer und tiefer stoßen?
Ich rede ja nicht von dem Weib, das sich verkauft
oder verschleudert — aber woher nehmen wir nur das
Recht, jedes Weib für rechtlos zu erklären, das die
Kühnheit hatte, zu lieben, bevor wir erschienen?“ Der
Versuch unseres Helden mißlingt. Die Macht der Er¬
innerungen, die seine Ohantasie an das Geschehene
knüpft, ist zu groß. Er kann darüber nicht hinweg.
So allgemein ist dieses heikle Thema eben nicht zu be¬
handeln, und sein Unvermögen, das übrigens nicht hin¬
reichend begründet ist, beweist so wenig gegen seine
These, wie man umgekehrt nach Arteiner vorlauten Eman¬
zipation Orinzipien des Lebens in Thesen ausschöpfen
kann. Der Dichter kann nur den individuellen Fall beweisen.
In „Freiwild“ ist gleichfalls ein novellistischer Stoff
zu Unrecht ins Dramatische übersetzt worden, oder
box 36/2
—
besser in's Theatralische, nur daß dieser Begriff bei
Schnitzler einer besonderen Erklärung bedarf. Ihm ist
die novellistische Form in weit stärkerem Maße eigen
als die dramatische, trotz seiner ausgezeichneten Begabung
für den fein geschliffenen Dialog. Andrerseits weiß er,
daß das Drama zwingende und schlagende Situationen
nun einmal nicht entbehren könne. So führt er sie
mehr mit Dernunft als aus dem Instinkt der Hand¬
lung herbei, er setzt Trümpfe auf, die bei diesem im
Grunde stillen und feinen Doeten theatralisch wirken.
Im „Freiwild“ tritt das am stärksten zu Tage. Mit
dem Titel will er, der sich stets im engen Kreise der
Bühne, der kleinen und großen Gesellschaftswelt hält,
das selbständige junge Mädchen bezeichnen, dessen
Schönheit ein Freibrief für männliche Impertinenzen
ist. Anna Riedel gastiert als jugendliche Naive in
einem kleinen Badeort. Sie hält sich fern von den
Anschauungen und Lebensgewohnheiten des Theaters.
Ihre Führung ist tadellos. Ein junger Offizier,
großer Jäger und Schuldenmacher vor dem Herrn, tut
ihr einen Schimpf an und wird dafür von dem Freunde
der Schauspielerin geohrfeigt. Die Duellforderung wird
abgelehnt, trotzdem damit für den Offizier alles
auf dem Spiele steht. Anna Riedel und ihr Beschützer,
durch die allgemeine Fehme aneinander gejagt, be¬
schließen ihr Tos zu vereinen. Auch der junge Mann,
der das Duell verweigert, ist nun „Freiwild“ geworden.
Er will dem Sturme trotzen, verzögert seine Abreise.
Im letzten Momente tritt ihm der Beleidigte ent¬
gegen, schießt ihn nieder. Das ist eine Reihe von
Unglücksfällen, in nichts eine tragische Notwendigkeit.
Ueberall regen sich gefährliche Einwendungen und
Zweifel. Dor allem entstehen die Konflikte unter
Menschen, die nichts miteinander gemein haben. Die
Offizierswelt, das Theater, die Gruppe der beiden
jungen Leute, sind nur äußerlich mit einander bekannt.
So kann ein tieferer Konflikt, eine lebendige Tragik
nicht aufkommen. Es ist auch nicht zweifelhaft, daß
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III.
Derselbe Dichter, der hier das wahrhaft Tragische
so klar erkannte und zu gestalten wußte, hat nicht
weniger als drei Thesenstücke geschrieben, die eigentlich
allem widersprechen, was hier zu seinen Gunsten gesagt
wurde: „Das Märchen“ noch vor der „Liebelei“ ge¬
schrieben (die 1895 ihre Erstaufführungen an der Wiener
Burg erlebte), „Freiwild“ (Deutsches Theater, 1896),
„Das Vermächtnis“ (Deutsches Theater, 1898).
„Das Märchen“ ist ein herzlich schwaches Stück,
langatmig, unsicher, quälend, mit einer Ueberfülle von
Dersonen behaftet, die man sich gerne wegwünscht.
Fedor Denner, Schriftsteller, Revolutionär, für seine
dreißig Jahre auffallend unreif, will das Märchen von
dem gefallenen Weibe durch die Oraxis beseitigen,
indem er es unternimmt, eine junge Schauspielerin mit
einer Vergangenheit zu heiraten: „Wenn uns so ein
Wesen entgegenkommt, das geirrt, geliebt wie wir,
dann darf sie nicht einmal verlangen, daß wir an ihre
Liebe glauben? . . . Ja, aber merken Sie denn nicht,
daß wir sie erst damit erniedrigen, ihnen damit die
Rückkehr unmöglich machen, sie tiefer und tiefer stoßen?
Ich rede ja nicht von dem Weib, das sich verkauft
oder verschleudert — aber woher nehmen wir nur das
Recht, jedes Weib für rechtlos zu erklären, das die
Kühnheit hatte, zu lieben, bevor wir erschienen?“ Der
Versuch unseres Helden mißlingt. Die Macht der Er¬
innerungen, die seine Ohantasie an das Geschehene
knüpft, ist zu groß. Er kann darüber nicht hinweg.
So allgemein ist dieses heikle Thema eben nicht zu be¬
handeln, und sein Unvermögen, das übrigens nicht hin¬
reichend begründet ist, beweist so wenig gegen seine
These, wie man umgekehrt nach Arteiner vorlauten Eman¬
zipation Orinzipien des Lebens in Thesen ausschöpfen
kann. Der Dichter kann nur den individuellen Fall beweisen.
In „Freiwild“ ist gleichfalls ein novellistischer Stoff
zu Unrecht ins Dramatische übersetzt worden, oder
box 36/2
—
besser in's Theatralische, nur daß dieser Begriff bei
Schnitzler einer besonderen Erklärung bedarf. Ihm ist
die novellistische Form in weit stärkerem Maße eigen
als die dramatische, trotz seiner ausgezeichneten Begabung
für den fein geschliffenen Dialog. Andrerseits weiß er,
daß das Drama zwingende und schlagende Situationen
nun einmal nicht entbehren könne. So führt er sie
mehr mit Dernunft als aus dem Instinkt der Hand¬
lung herbei, er setzt Trümpfe auf, die bei diesem im
Grunde stillen und feinen Doeten theatralisch wirken.
Im „Freiwild“ tritt das am stärksten zu Tage. Mit
dem Titel will er, der sich stets im engen Kreise der
Bühne, der kleinen und großen Gesellschaftswelt hält,
das selbständige junge Mädchen bezeichnen, dessen
Schönheit ein Freibrief für männliche Impertinenzen
ist. Anna Riedel gastiert als jugendliche Naive in
einem kleinen Badeort. Sie hält sich fern von den
Anschauungen und Lebensgewohnheiten des Theaters.
Ihre Führung ist tadellos. Ein junger Offizier,
großer Jäger und Schuldenmacher vor dem Herrn, tut
ihr einen Schimpf an und wird dafür von dem Freunde
der Schauspielerin geohrfeigt. Die Duellforderung wird
abgelehnt, trotzdem damit für den Offizier alles
auf dem Spiele steht. Anna Riedel und ihr Beschützer,
durch die allgemeine Fehme aneinander gejagt, be¬
schließen ihr Tos zu vereinen. Auch der junge Mann,
der das Duell verweigert, ist nun „Freiwild“ geworden.
Er will dem Sturme trotzen, verzögert seine Abreise.
Im letzten Momente tritt ihm der Beleidigte ent¬
gegen, schießt ihn nieder. Das ist eine Reihe von
Unglücksfällen, in nichts eine tragische Notwendigkeit.
Ueberall regen sich gefährliche Einwendungen und
Zweifel. Dor allem entstehen die Konflikte unter
Menschen, die nichts miteinander gemein haben. Die
Offizierswelt, das Theater, die Gruppe der beiden
jungen Leute, sind nur äußerlich mit einander bekannt.
So kann ein tieferer Konflikt, eine lebendige Tragik
nicht aufkommen. Es ist auch nicht zweifelhaft, daß
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