VI, Allgemeine Besprechungen 1, Hans Landsberg, Seite 15

Pamphlets, offprints
der Held, der der bornierten Duellmoral seine eigene Sitt¬
lichkeit entgegenstellt und nicht daran denkt, sich vor die
Distole eines Gegners zu stellen, dem er eine verdiente
Züchtigung antat, vor sich und damit vor der Welt
Recht behält. Sein Tod ist also nur ein Unglücksfall,
ja eine Entscheidung des Augenblicks, da er selbst die
Pistole nicht rechtzeitig ziehen kann. So steht das
Tragische hier auf sehr schwachen Füßen, so hübsch
und lebendig einige Szenen, besonders die humoristischen
Genrebilder aus dem Theaterleben gegeben sind.
Das Vermächtnis (1898) giebt keine größere Aus
beute. Ein junger Mann aus guter Familie, der bei
einem Ritt verunglückt, beschwört die Eltern seine Ge¬
liebte und sein Kind zu sich zu nehmen. Man ent¬
schließt sich dazu mit der Zögerung und dem geheimen
Widerwillen einer spießbürgerlichen Moral, bewogen
durch die Frauen, die ja in Fragen der Sittlichkeit
weniger ererbtes Ohilistertum an sich tragen als die
Männer. Da stirbt das Kind. Die edle Familie sieht
in der Geliebten nicht mehr die Mutter, sondern nur
noch ein leichtfertiges Weib. Man parlamentiert mit
ihr. Sie versteht und geht in den Tod.
Wieder darf man sagen, das Stück stirbt an seiner
Wirklichkeit. Das Leben führt gewiß solche Tragödien
zu Dutzenden auf. Was hat die höhere Wahrheit der
Kunst hier zu suchen? Man darf sagen, wäre der
Sohn des Hauses an diesem Tage nicht gestürzt, so
wäre er nicht gestorben und das ganze Drama un
möglich. Und in unserem Stück enthüllen sich dem
schärferen Blick noch sehr viele andere „Wenn“ und
„Aber“. So würde die junge Mutter im Hause einer
Tante ihres Geliebten Aufnahme finden, wenn nicht
deren Tochter eine Neigung für den teueren Toten
gehabt hätte. Die Tragik ist also durchaus konstruiert.
Ueberdies leidet das Drama an einer verwirrenden
Fülle von Gestalten, deren Notwendigkeit wir nicht
recht einsehen. Das moderne Drama ist ja durchaus
bestrebt, die äußere Handlung wie die Zahl der Mit¬
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spieler auf ein Minimum zu beschränken, in der richtigen
Erkenntnis, daß nur so ein rechtes Ausleben und gegen¬
seitiges Durchdringen der handelnden Menschen möglich
ist. Schnitzler wandelt hier auf den Spuren Ibsens,
des Gesellschaftskritikers. In Professor Losatti, dessen
Edelmut und Herzensgröße stets nach dem Lobe und
Beifall der Gesellschaft schielt, erkennen wir eine ge¬
lindere, mehr lebenswahre Abwandlung des Hjalmar
Ekdal, und die freimütige Tante, die den Verwandten
die Meinung sagt, erinnert an Lona Hessel (Stützen der
Gesellschaft). Daß in den einzelnen Szenen, die sich
weder innerlich, noch äußerlich zu einer Totalität zu¬
sammenschließen, wieder viele Feinheiten stecken, ist bei
Schnitzler selbstverständlich.
Dielleicht sind diese Dramen ein Tribut der Zeit,
ein Opfer, das der Moloch „Theater“ schon manchem
Dichter abgerungen hat. Jedenfalls liegt etwas Fremdes,
Gezwungenes, Literarisches über diesen Werken, und wir
sind froh, den eigentlichen Dichter in den beiden Ein¬
aktercyklen „Der grüne Kakadu“ und „Lebendige
Stunden“ ganz anders wiederzufinden. Ja, man darf
sagen, in der kurzen dramatischen Skizzeliegt der Schwerpunkt
von Schnitzlers Begabung. Er nimmt hier keine gro߬
artigen Drobleme auf, wohl aber schildert er Menschen,
die in fruchtbaren Stunden des Daseins bis zu den
Wurzeln ihrer Existenz vordringen und die große Lebens¬
lüge, in die sie eine natürliche Schwäche einlullte, in
reinere Linien auflösen. „Der Moment ist alles“, heißt
es einmal bei Goethe, und allzugern hat man diese
Erkenntnis als Signatur der ganzen modernen Literatur
aufgefaßt. Bei Schnitzler nun ist es ein im Grunde
anekdotisches Erlebnis, das die Bilanz einer menschlichen
Existenz mit einem Schlage völlig verändert. Kritisch
könnte man einwenden, daß ja gerade solche „lebendigen
Stunden“ in denen der Duls stärker schlägt und das
Dorherrschen einer Empfindung das seelische Leben mit
allen seinen Verästelungen bloßlegt, am wenigsten ge¬
eignet sind, ein objektives Bild menschlicher Zustände