VI, Allgemeine Besprechungen 1, Hans Landsberg, Seite 20

1. Panphlets, offprints
läßt. „Wenn Sie im Mittelpunkt der Erde wohnten,
wüßten Sie, daß alle Dinge gleich schwer sind. Und
schwebten Sie im Mittelpunkt der Welt, dann ahnten
Sie, daß alle Dinge gleich wichtig sind.“ Darin ist
aber die Ohilosophie die stärkste Feindin aller Kunst,
daß sie ihre Menschen an dem tätigen Genuß des Er¬
lebens hindert. Ein Liebender, der philosophiert, wird
seiner Geliebten leicht unerträglich. Und, frage ich, liegt
nicht alle Tragik menschlichen Daseins in der Un¬
möglichkeit, über seine eigentümlichen Lebensumstände
hinwegzukommen, in der eigentümlichen Gebundenheit
des Daseins, das den Menschen ohne die Duellen
tragischen Erlebens in Einsamkeit verdursten läßt?
Dielleicht haben wir es hier mit dem persönlichsten
Werk des Dichters zu tun. Sein Drama schildert uns
Naturen, deren sehnsüchtiger Trieb nach Lebensgenuß,
der zu Derpflichtungen führt, durch das Bedürfnis
persönlicher Freiheit fortwährend unterbunden wird.
Das Einheitliche der vielfarbigen und verschwimmenden
Motive besteht darin, daß auf dem Lebenswege
jedes Einzelnen sich die Reue einstellt darüber,
daß er sein Lebensglück aus Furcht vor dem Verlust
der persönlichen Freiheit nicht festzuhalten verstand. Es
ist die Tragödie des „Dorbeigehens“, die Ibsen freilich
ungleich großartiger darstellt, weil er sie unmittelbar
aus der Natur seiner Helden ableitet. Und es ist zu¬
gleich in der Hauptfigur, dem alternden Maler, die
Tragödie des ergrauten Anatol dargestellt, der sich
darauf besinnt, daß er seine einsame Freiheit eigentlich
mit den teuersten Gütern des Lebens erkauft hat. Nur
schale Reste der Erinnerung bleiben ihm zurück: Ein
Bild, das im Sonnenglanze seiner Liebe entstand. Ein
Kind, das seine Zuneigung nicht erwidern kann, weil es im
Gefühl einer anderen Daterschaft aufgewachsen ist. Diese
Fichtner und Sala, Egoisten und Lebenskünstler, erleben
den Bankrott ihres Handelns, weil sie dem Dasein nur
als Nehmer, nicht als Schenkende gegenübertreten. Sie
haben nach ihrem eigenen Bekenntnis nie ein Wesen
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auf Erden geliebt. „Lieben heißt, für jemand andern
auf der Welt sein. ... Was hat das, was unsereiner
in die Welt bringt, mit Liebe zu tun? Es mag allerlei
Lustiges, Derlogenes, Zärtliches, Gemeines, Leidenschaft¬
liches sein, das sich als Liebe ausgibt, — aber Liebe
ist es doch nicht. ... Haben wir jemals ein Opfer
gebracht, von dem nicht unsere Sinnlichkeit oder unsere
Eitelkeit ihren Dorteil gehabt hätte? . .. Haben wir
je gezögert, anständige Menschen zu betrügen oder zu
belügen, wenn wir dadurch um eine Stunde des Glücks
oder der Lust reicher werden konnten?
Im „Duppenspieler“ liegen schon die keime dieses
verfehlten Lebens. Auch hier ein Lebensphilosoph, dessen
Hochmut an den schlichten Gesetzen des Daseins zu¬
schanden wird. Seine Duppen werden lebendig und
gewinnen ein sicheres Erdenglück, indes der vermeint¬
liche Meister des Lebens all der Güter, an die er sein
Herz gehängt, verlustig geht.
In Schnitzlers Novellistik finden wir die ganze
Summe der Konflikte, Motive, Stimmungen, Gestalten,
die uns in seinen Dramen begegnen, wieder. Nur, daß
seiner künstlerischen Wesensart das Nebeneinander der
Novelle besser entspricht als das dramatische Ineinander.
Schnitzler hat als Erzähler eine starke Verwandtschaft
mit Maupassant, nur ist er hier nie satirisch, sondern
im guten Sinne sentimental. Es gelingt ihm aus¬
gezeichnet, das Milieu mit den Gefühlen des Menschen
in Einklang zu setzen, ein einfaches Geschehen in der
ganzen Fülle der Nuancen, die seine Entwicklung mit
sich bringt, abzuschildern. Jede dieser Novellen besteht
aus einer Hette impressionistischer Szenen, die mit der
farbigen Weichheit eines Pastells wiedergegeben sind.
Widerstrebt die Wertgleichheit, die er allen Lebens¬
momenten beimißt, dem Dramatischen, so gibt sie der
Novelle ein Kolorit von wunderbar ebenmäßiger Hart¬
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