VI, Allgemeine Besprechungen 1, F. O. Schmid A. S. und die Jung Wiener Schule, Seite 4

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Allgemeine aus dem Besonderen herauszuheben und das Einzelne, lokal
Begrenzte ins Typische, allgemein Menschliche, Ewige zu steigern.
Schnitzlers Welt ist in erster Linie eine Stimmungswelt. Alle jene
leisen, fließenden, plötzlich aufzuckenden und wieder verschwindenden See¬
lenregungen, alle jene sehnsüchtigen, heiter lächelnden, schwermütig träu¬
menden, leichtsinnig scherzenden, trostlos verzweifelnden Stimmungen
und Gefühle, die eine Menschenbrust vom Himmelhoch=jauchzend bis Zum¬
Tode=betrübt bewegen, alle die weiß er mit einer Meisterschaft festzuhal¬
ten, wie kaum ein zweiter neben ihm oder vor ihm. Sein Nervensystem
reagiert auf jeden Viertels= — nein, jeden Zehntelston einer Empfin¬
dung, und manchmal scheint es sogar, als ob er sie aus der verdämmern¬
den Welt des Unterbewußtseins ans Licht holte. Schnitzler kennt die
Seele in ihren letzten und merkwürdigsten Verästelungen, er legt ihre
feinsten Fasern bloß, wie der Arzt bei einem Körper auf dem Sezier¬
tische. Daher auch die alles durchdringende Menschenkenntnis bei ihm,
die unverrückbare Sicherheit, mit der er seine Gestalten auf die Beine
stellt, und die letzten und feinsten Außerungen ihres Seins durchleuchtet.
Schnitzlers Werke zerfallen rein formell in zwei große Gruppen,
in die prosaischen und die dramatischen. Lyrik hat er meines Wissens
nie veröffentlicht, und doch könnte man darüber streiten, ob nicht das
Lyrische in ihm der stärkste Teil sei. Gerade diese Fülle von rein subjek¬
tiven Stimmungen und Gefühlen entspringen doch einer stark lyrischen
Veranlagung, und seine Dramen zeigen, wie sehr er sich davor hüten muß,
die straffe, klare Linie, die das Drama verlangt, nicht durch zu breite ly¬
rische Ausmalung zu verwischen. Auch für seine Prosawerke gilt das,
wenn auch naturgemäß nicht in so starkem Maße, da ja die Epik ein Be¬
frachten mit reinen Gefühlselementen weit eher verträgt, als die auf der
Bühne sich abspielende, unmittelbare Darstellung des tatkräftigen
Lebens.
In ungewöhnlicher Weise versteht es Schnitzler, uns namentlich in
seinen Prosawerken schon von der ersten Seite an festzuhalten, wir sind
sofort mitten in dem ganzen Dunstkreis von Personen und Verhältnissen
drin, mit dem ganzen Duft, dem Klang und der Farbe des jeweiligen
Augenblicks, und er läßt uns nicht eher wieder los, bis er uns in pracht¬
voller Steigerung zum Höhepunkte und dem meist etwas schwermütigen,
oft aber auch heiter lachenden Ausklang gebracht hat. Ob er nun in
meisterhafter Gedrängtheit im „Leutnant Gustl“ die letzte Nacht
eines jungen Offiziers schildert, der sich glaubt erschießen zu müssen, weil
ein Bäckermeister, an den er gestoßen ist, „Dummer Bub“ zu ihm gesagt
hat; ob er in „Frau Bertha Garlan“d. s Liebesleben einer hüb¬
schen, in einen Kammervirtuosen verliebten Frau zum Gegenstand der
Darstellung macht; oder ob er uns in „Sterben“ das langsame Er¬
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