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Panphlets offorints
ziehen möchte: „Und was hülfe es Ihnen, wenn er bliebe? Was hülfe es
Ihnen selbst, wenn er irgend etwas wie kindliche Zärtlichkeit zu Ihnen
empfände? ... Was hülfe er Ihnen oder irgend ein anderer als er? ...
Es graut Ihnen vor der Einsamkeit? . . . Und wenn Sie eine Frau an
Ihrer Seite hätten, wären Sie heute nicht allein? . .. Und wenn Kin¬
der und Enkel um Sie lebten, wären Sie es nicht? . .. Und wenn Sie
sich Ihren Reichtum, Ihren Nuhm, Ihr Genie bewahrt hätten, — wären
Sie es nicht? .. . Und wenn uns ein Zug von Bacchanten begleitet —
den Weg hinab gehen wir alle allein.“
Das ist der Kern dieses Dramas, eines weichen und müden Sanges
voll Resignation und stiller Trauer.
„Der Rufdes Lebens“ ist Schnitzlers letztes größeres Drama.
Der alte Rittmeister Moser, der vor dreißig Jahren durch die Flucht sei¬
ner Schwadron das ganze Regiment mitriß, was den Verlust der Schlacht
zur Folge hatte, liegt krank und halb gelähmt in seinem Lehnstuhl. Wie¬
der ist Krieg ausgebrochen. Unten reiten die blauen Kürassiere, sein ge¬
wesenes Regiment, vorbei. Sie reiten in den Tod. Sie wollen die Schmach
fühnen, die das Regiment vor dreißig Jahren auf sich geladen, und des¬
halb haben die Offiziere vom Kaiser die Gnade erbeten, dahin gestellt zu
werden, wo sie wohl den andern von Nutzen sind, ihr eigener Tod aber ge¬
wiß ist. Am Fenster steht Marie, die Tochter des Rittmeisters, und schaut
mit brennenden Augen auf die vorbeiziehenden Reiter und Pferde. Sie
liebt einen der Offiziere des Regiments. Aber die letzte Schwadron, der
er angehört, sieht sie nicht. Die wird mit dem Oberst erst am andern
Morgen abreiten. Und da drinnen sitzt ihr alter, zänkischer Vater, der
ihre Jugend verbittert, und von dem sie weiß, daß er schuld am Tode aller
dieser blühenden jungen Leute ist und will sie nicht weglassen. In ihrer
Verzweiflung gibt sie dem Alten den Trank, von dem er nimmer aufwa¬
chen wird und stürzt davon in die Nacht, um den Geliebten ein letztes
Mal zu sehen. Sie verbringt die Nacht mit ihm. Am Morgen aber findet
sie nicht den Mut, ihm in den Tod zu folgen, weil der Ruf des Lebens in
ihr zu stark ist: „In den Auen, wo er mich verlassen hatte, bin ich umher¬
geirrt und habe den Mut nicht gefunden, hinabzutauchen, wo die ewige
Stille ist“ sagt sie zu ihrem Freunde, dem Arzt. „Wie darf ich unter an¬
dern Menschen herumgehen, einsaugen den Duft des Waldes, auf blühen¬
der Wiese liegen und in den Himmel schauen? — Was bin ich für ein
Wesen, das aus einem solchen Schicksal wieder emportaucht, wie aus ei¬
nem wilden Traum?
— Und wacht — und lebt? und — sich sehnt zu
leben —?“
„Sie leben, Marie... und es war. . .“, antwortet der Arzt.
„Auch seit jenem Morgen fließen die Tage und Nächte weiter für Sie
hin. Auch daß Sie über Feld und Wiesen spazieren gehn, daß Sie Blu¬
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Panphlets offorints
ziehen möchte: „Und was hülfe es Ihnen, wenn er bliebe? Was hülfe es
Ihnen selbst, wenn er irgend etwas wie kindliche Zärtlichkeit zu Ihnen
empfände? ... Was hülfe er Ihnen oder irgend ein anderer als er? ...
Es graut Ihnen vor der Einsamkeit? . . . Und wenn Sie eine Frau an
Ihrer Seite hätten, wären Sie heute nicht allein? . .. Und wenn Kin¬
der und Enkel um Sie lebten, wären Sie es nicht? . .. Und wenn Sie
sich Ihren Reichtum, Ihren Nuhm, Ihr Genie bewahrt hätten, — wären
Sie es nicht? .. . Und wenn uns ein Zug von Bacchanten begleitet —
den Weg hinab gehen wir alle allein.“
Das ist der Kern dieses Dramas, eines weichen und müden Sanges
voll Resignation und stiller Trauer.
„Der Rufdes Lebens“ ist Schnitzlers letztes größeres Drama.
Der alte Rittmeister Moser, der vor dreißig Jahren durch die Flucht sei¬
ner Schwadron das ganze Regiment mitriß, was den Verlust der Schlacht
zur Folge hatte, liegt krank und halb gelähmt in seinem Lehnstuhl. Wie¬
der ist Krieg ausgebrochen. Unten reiten die blauen Kürassiere, sein ge¬
wesenes Regiment, vorbei. Sie reiten in den Tod. Sie wollen die Schmach
fühnen, die das Regiment vor dreißig Jahren auf sich geladen, und des¬
halb haben die Offiziere vom Kaiser die Gnade erbeten, dahin gestellt zu
werden, wo sie wohl den andern von Nutzen sind, ihr eigener Tod aber ge¬
wiß ist. Am Fenster steht Marie, die Tochter des Rittmeisters, und schaut
mit brennenden Augen auf die vorbeiziehenden Reiter und Pferde. Sie
liebt einen der Offiziere des Regiments. Aber die letzte Schwadron, der
er angehört, sieht sie nicht. Die wird mit dem Oberst erst am andern
Morgen abreiten. Und da drinnen sitzt ihr alter, zänkischer Vater, der
ihre Jugend verbittert, und von dem sie weiß, daß er schuld am Tode aller
dieser blühenden jungen Leute ist und will sie nicht weglassen. In ihrer
Verzweiflung gibt sie dem Alten den Trank, von dem er nimmer aufwa¬
chen wird und stürzt davon in die Nacht, um den Geliebten ein letztes
Mal zu sehen. Sie verbringt die Nacht mit ihm. Am Morgen aber findet
sie nicht den Mut, ihm in den Tod zu folgen, weil der Ruf des Lebens in
ihr zu stark ist: „In den Auen, wo er mich verlassen hatte, bin ich umher¬
geirrt und habe den Mut nicht gefunden, hinabzutauchen, wo die ewige
Stille ist“ sagt sie zu ihrem Freunde, dem Arzt. „Wie darf ich unter an¬
dern Menschen herumgehen, einsaugen den Duft des Waldes, auf blühen¬
der Wiese liegen und in den Himmel schauen? — Was bin ich für ein
Wesen, das aus einem solchen Schicksal wieder emportaucht, wie aus ei¬
nem wilden Traum?
— Und wacht — und lebt? und — sich sehnt zu
leben —?“
„Sie leben, Marie... und es war. . .“, antwortet der Arzt.
„Auch seit jenem Morgen fließen die Tage und Nächte weiter für Sie
hin. Auch daß Sie über Feld und Wiesen spazieren gehn, daß Sie Blu¬