VI, Allgemeine Besprechungen 1, F. O. Schmid A. S. und die Jung Wiener Schule, Seite 9


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Panphlets offorints
men pflücken, daß Einer versöhnt von Ihnen Abschied nahm, daß Sie hier
mit mir reden unter dem leuchtenden Mittagshimmel, ist Leben. Nicht
minder als es jene Nacht gewesen ist, da es Sie aus verstörter Jugend
nach dunklen Abenteuern lockte, die Ihnen heute noch als Ihres Daseins
letzter Sinn erscheinen... Und wer weiß, ob Ihnen nicht später —
viel später einmal aus einem Tag wie der heutige, der Ruf des Lebens
viel reiner und tiefer in die Seele klingen wird, als aus jenem andern,
an dem Sie Dinge erlebt haben, die so furchtbare und glühende Namen
tragen wie Mord und Liebe.“
Sehr schön ist in diesem Stück auch die Gestalt der schwindsüchtigen
Katharina, die weiß, daß sie sterben muß, aber vorher noch das Leben
in durstigen Zügen auszuschöpfen versucht: „Abschied nehmen ist süß“
sagt sie. „Wenn man erst weiß, wie kurz das Leben ist, duftet jeder Ab¬
schied von einem neuen Morgen. Mit zweiundzwanzig Jahren liege ich
Ich will nicht bei der Mutter bleiben,
im Grab. Heut bin ich neunzehn.
diese drei Jahre. Wenn ich so still dahinlebe, wird mir bang. Nur die
sich an vieles zu erinnern haben, schlafen ruhig in der Erde, — die an¬
dern . .. weißt Du's nicht? . .. flattern und klagen über der Erde
umher. Oft schon bei Nacht habe ich meine toten Schwestern gesehen.
Ich will ruhig schlafen. —“
Meisterhaft kontrastieren in diesem Drama Todesstimmung und
Lebenssehnsucht miteinander. Die Sprache wird gleichsam nur noch
stammelnder Laut für die alles durchbebende Gewalt und Macht der Ge¬
fühle und Leidenschaften. Vielleicht hat Schnitzler künstlerisch geschlosse¬
nere und abgerundetere Werke geschrieben, als „Der Ruf des Lebens“
An inneren Schönheiten und Werten reichere und bedeutendere gewiß
nicht.
Zwischen hinein sind von ihm noch andere Stücke erschienen, so das
Drama des nervös mißtrauischen Zweiflers Fedor Denner „Das Mär¬
chen“; das Duellstück „Freiwild“; dann „Zwischenspiel“, die Tragi¬
komövie zweier seelisch hin und her schwankenden Menschen und das die
gesellschaftlich soziale Frage streifende „Vermächtnis“. Sie zeigen alle
die typisch Schnitzlerische Eigenart, ohne sich jedoch in ihrer Bedeutung
ganz zu der Höhe der früher genannten Dramen zu erheben.
In einer Form der literarischen Produktion ist aber Schnitzler der
in deutscher Sprache bis jetzt unerreichte Meister geblieben, und selbst die
geistreichen, französischen Causeurs, wie Prévost, Hervien und andere,
erreichen ihn darin kaum: im stark zusammengedrängten Einakter, der
oft nicht mehr ist als ein szenischer Dialog. Mit einem kolossalen Kon¬
zentrationsvermögen verdichtet Schnitzler einen Stoff, aus dem ein an¬
derer vielleicht drei Akte gemacht hätte, zu einem Substrat von wenig
Seiten. Aber jede Seite sprüht förmlich von Geist, Witz und Humor, in
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