VI, Allgemeine Besprechungen 1, 4, Viktor Klemperer Bühne und Welt, Seite 8

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1. Pamphlets, Offprints
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Bühne und Welt.
gewissem Sinne wohl auch die andere Ich=Hälfte Schnitzlers, sowie man etwa aus
Götz und Weislingen den ganzen jungen Goethe zusammensetzen kann. Zu diesen
Gestalten treten nacheinander die Frauen, die jeweilig Anatols Phantasie beschäftigen,
ihn entzücken oder quälen, ihm alle und immer zum Beobachtungsobjekt dienen. Die
Frauen, die Anatol „liebt", vermeide ich zu sagen, obwohl in diesem Buche viel
von Liebe die Rede ist. Aber nur eben die Rede. Schnitzler hat später selbst das
wundervoll einfache Wort gefunden: lieben heiße, für einen andern da sein. Dieses
hohe Glück wird dem immer von Frauen beglückten Anatol nie zuteil; fände er's,
so wäre ja auch die Aette der Tragikomödien zu Ende, die eben die „Anatol“=Szenen
bilden, das fruchtlose Glücksuchen eines Sehnsüchtigen, der sich nicht das Recht zu¬
gesteht, nicht die Kraft zutraut, sein im Grunde tragisches Erleben wirklich tragisch
zu nehmen, und so zur geistreichen Bemerkung, zur romantischen Ironie flüchtet.
Will man literarische Verwandtschaften festhalten, so weist vom „Anatol“ manches
auf Heine zurück. Man könnte das Buch geradezu als die Ouvertüre zu Schnitzlers
Werken betrachten; viele seiner späteren Themen werden hier berührt, viele seiner
späteren Farben versucht. Nur sein gewaltigstes, das Todesmotiv, findet noch keinen
Ausdruck, denn der Dichter schlägt ja doch den Grundton der Heiterkeit an.
Nun ist dieses merkwürdig. Das Gespräch, wie es Schnitzler im „Anatol“
gibt und noch einmal im „Reigen“ geboten hat, bedeutet eigentlich die seiner Anlage
entsprechendste Form. Denn jene ungemeine Objektivität, jenes Rundherum des Be¬
trachtens, jene Schärfe und Plastik im Erwägen des Für und Wider jeder Sache
drängen zur dialogischen Form. Und wiederum bildet die gleiche Objektivität in
in ihrem Uebermaß, bildet die Unfähigkeit, ernstlich Partei zu ergreifen, ein Hemmnis
beim Herausarbeiten entschiedener Zusammenstöße, und auch die Liebe zur ein¬
dämmernden Stimmungsmalerei ist der dramatischen Wucht unzuträglich. Da scheint
denn das Gespräch, also das dramatische Gefüge ohne den zerstörenden Inhalt des
Dramas, sozusagen die Platzpatrone unter den dichterischen Geschossen, die geeignetste
Form für Schnitzlers Gaben. Und dennoch hat Schnitzler recht, ja, folgte einer
Notwendigkeit, als er nicht bei dem ihm so gefügigen Gespräch, der dialogischen
Szene verblieb. Denn auf die Dauer kann ja der Dichter hiermit nichts Ernstes
vollbringen, sondern nur spielen; das Gespräch ist eben nur Platzpatrone, es vermag
keine entscheidende Wirkung hervorzubringen. Sobald Schnitzler tiefer greifen,
Wesentliches leisten wollte, mußte er über das bloße Gesprächsspiel hinausgehen. Zwei
Wege waren möglich: Die Ausfüllung zur epischen, die Zuspitzung zur dramatischen
Handlung, und beide ist der Dichter in raschester Folge gegangen.
Im Epischen, das hier nur gestreift werden kann, erreichte er sofort einen
Gipfel seiner Kunst, deshalb vielleicht, weil er in der Novelle „Sterben“ das Tragische
seines Wesens unverhüllt zeigte und seinen mächtigsten Helfer, den Tod, mitgestalten
ließ. Nach mancher mehr interessanten als bedeutenden Schöpfung folgte dann eines
seiner reichsten Werke, die Erzählung „Leutnant Gustl“, in der auf knappstem Raum
neben dem Tragiker der Humorist und Satiriker zu Worte kommt, und schließlich
erschien sein umfassender Roman „Der Weg ins Freie“, eine ganz persönliche Beichte
und vollkommen objektive Geschichtsdarstellung zugleich.
Auf dem dramatischen Gebiet, dem er hisher den größten Teil seiner Arbeits¬
zeit gewidmet hat, war Schnitzler im Beginn sehr viel weniger glücklich. Er vergriff
sich Anfangs in der Themenstellung. Darüber äußerte er sich selber mit scharfem
Erkennen und großer Prägnanz, als ich mich mit ihm unterhalten durfte. Es war
vom „Weg ins Freie“ die Rede. Die verschiedenen Strömungen innerhalb des
modernen Judentums, als Zionismus und Bemühung um völliges Deutschwerden,
die Versuche „ins Freie“ zu kommen also, bilden den eigentlichen geistigen Inhalt
des Buches, und der Dichter, der die Vertreter der einzelnen Richtungen darstellt,