VI, Allgemeine Besprechungen 1, 4, Viktor Klemperer Bühne und Welt, Seite 9

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1. Pamphlets, Offprints
Bühne und Welt.
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erklärt schließlich: „Ich glaube überhaupt nicht, daß solche Wanderungen ins
Freie sich gemeinsam unternehmen lassen ... denn die Straßen laufen ja nicht im
Lande draußen, sondern in uns selbst. Es kommt nur für jeden darauf an, seinen
inneren Weg zu finden ... den Mlut seiner eigenen Natur zu haben.“ Und das,
meinte nun Arthur Schnitzler, sei für ihn so entscheidend gewesen, daß ihm die
tausendfache Verschiedenheit der inneren Wege aufgegangen sei, daß er es aufgegeben
habe, in welcher Angelegenheit auch immer, nach allgemein gültigen Lösungen
zu suchen, die er mit seiner ewigen Skepsis, dem steten Rundherum seines Betrachtens
doch niemals finden könnte. Früher, sagte er, und mir ist das wohl wörtlich im
Gedächnis geblieben — früher bin ich von Fragen ausgegangen; jetzt gehe
ich von Menschen aus. Nimmt man es mit der chronologischen Genauigkeit
nicht allzu ängstlich, so hat man in diesem Satz wirklich die entscheidende Entwickelung
des Dramatikers Schnitzler: Er schreibt Thesenstücke und versagt; er dichtet, wenn
der Ausdruck gestattet ist, Menschendramen und erweist sich als völliger Dichter.
Der junge Schnitzler ließ sich von der Zeitströmung der neunziger Jahre be¬
einflussen und basierte etliche seiner Dramen auf allgemeinen Fragen, für die allgemeine
Lösungen gesucht wurden. Da ging es um das Duell, um das Liebesrecht der Frau
usw. Diese Stücke mißlangen dem Dichter, weil er für sie zu objektiv war. Man
verstehe mich recht; ich bin nicht etwa der Meinung, daß ein Dichter in solchen
Theaterdramen nur dann wirken kann, wenn er ganz unkünstlerisch schwarze
und weiße Duppen auf die Bühne stellt. Nein, seinen Gestalten gegenüber
kann er gar nicht objektiv genug sein. Aber mit dieser Objektivität — das übersieht
man immer wieder und sollte es doch spätestens an „Nora“ und den „Stützen der
Gesellschaft“ etwa gelernt haben! — mit dieser Objektivität kann sich sehr wohl
eine auf die Sache selber gerichtete Subjektivität verbinden, kann nicht nur, sondern
muß es sogar, wenn anders nicht das Drama der eigentlich dramatischen Stoßkraft
verlustig gehen soll. In den vierziger Jahren fochten Freiligrath und Herwegh ihr
berühmtes Duell aus. Jener schrieb: „Der Dichter steht auf einer höheren Warte
als auf der Zinne der Partei“, und herwegh erwiderte leidenschaftlich: „Partei!
Partei! Wer sollte sie nicht nehmen, die noch die Mutter aller Siege war!“ Der
Dramatiker muß in manchem Fall diesen beiden Reinungen gerecht werden, muß die
Menschen Bonaparte und d’Enghien so unparteilich zeichnen, wie das Freiligrath
verlangt, und muß doch nach herweghs Forderung der Sache gegenüber „nur offen
wie ein Mann: Für oder Wider“ Stellung nehmen. Und das eben ist Schnitzlers
für den Thesendramatiker allzugroße Objektivität, daß er auch an der feindlichen
Sache das Gute, an der ihm sympathischen das Unerfreuliche sieht, daß er also auch
ihr gegenüber parteilos bleibt. So wurden „Märchen“ und „Freiwild“ im Kern
undramatische Stücke, interessant, aber ohne alle Wucht des Zusammenpralls, und
dadurch, daß Schnitzler diesen Mangel gewissermaßen zu übertäuben suchte, indem
er zum mindesten im „Freiwild“ die äußere Wandlung zu einer recht gewaltsamen
machte, offenbarte er ihn der feineren Empfindung erst recht. Die Inkonsequenz
Fedor Danners, der sich über das „Märchen“ von den Gefallenen hinwegsetzen will
und auf eine erbärmliche Weise daran scheitert, das sinnlos inkonsequente Verhalten
Paul Rönnings im „Freiwild“ der Diellfrage gegenüber — beides erscheint mir
peinlich und vermag durchaus kein Alitgefühl beim Hörer oder Leser zu erregen.
Trauriger aber als um diese zwei Dramen ist es um das dritte der gleichen Gattung
bestellt. Denn während jene von Anfang bis zum Ende eben nur wie eine Abhandlung
oder Diskussion interessieren, nirgends erhitzen und so auch nirgends erkälten, reißt
Schnitzler im „Vermächtnis“ durch einen meisterlich gelungenen Akt den Hörer hin
und stößt ihn nachher um so gründlicher ab. Denn dieses Stück ist im Anfang eine
erschütternde Menschendarstellung und wird erst im weiteren Ablauf zum fatalen