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1. Panphlets, Offprints
Bühne und Welt.
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Thesenspiel. Man bringt den blutjungen Hugo, den einzigen unverkümmerten Menschen,
das Licht im Hause Losatti, nach schwerem Sturz vom Pferde sterbend heim. Der
Dater, Professor und liberaler Abgeordneter, ist ein Ohrasenheld, ein Komödiant,
der gern sich und andere mit falschen Worten rührt, die Frau hat in der Ehe kein
Genügen gefunden, die stille, gute Tochter steht auf das Drängen des Daters im
Begriff, einen kaltherzigen Streber zu heiraten, Frau Emma, Losattis verwitwete
Schwägerin, ihn selber, der sie mit heimlichem Begehren verfolgte, hassend, suchte
in Zugo einen jüngeren Freund, wohl auch den künftigen Schwiegersohn, da ihre
siebzehnjährige Tochter schwärmerisch an dem Detter hängt. Diesen Alenschen nun
wirft der Sterbende mit krampfiger Eile und Willensanspannung entgegen: er habe
eine heimliche Geliebte und ein Kind, und diese illegitime Familie müsse — das sei
sein letzter Wille — müsse dauernd freundliche Aufnahme im Losattischen Hause finden.
Nun ist es trefflich ausgeführt, wie sich die einzelnen Angehörigen diesem Verlangen
gegenüber verhalten, wie die Herzen der Frauen rasch gewonnen sind, wie der Dater
zum Rein= und Jasagen gleicherweise zu schwach ist, wie er schließlich, mitleidig
mit sich selbst und stolz auf sein liberales Wesen, in eigener Person zu Toni Weber
geht, weil man „doch nicht das Stubenmädchen schicken kann, um die Geliebte und
das Kind vom jungen Herrn abzuholen“. Mit „dem Verlöschen des Sterbenden,
während Toni und das Kind an seinem Lager stehen, schließt der kraftvolle Akt.
Und dann tritt „die Frage“ ihre unheilvolle Herrschaft an, das Individuelle ver¬
schiebend und bedrückend, das Tragische schwächend, Verwirrung und peinliches
Schwanken stiftend...
Doch schon zwischen diesen Thesenstücken (war dem Dichter ein erstes völliges
Menschendrama geglückt, die „Liebelei“, die ihm den vielleicht größten und sicher
verhängnisvollsten Erfolg eingetragen hat. Hier siand ja das süße Mädel, von dem
er im „Anatol“ so schwärmerisch berichtet, leibhaftg auf der Bühne, hier schwelgte
man ganz anders noch als beim „Anatol“ in Stimmung, in Wiener Grazie, in
Wiener Ausgelassenheit und Wehmut, hier gab sich das Erotische ganz frei von allem
Ballast der Gedanken. Da war denn der Glücklich=Unglückliche ein für alle Male
abgestempelt als der Dichter des süßen Mädels, der Erotiker, der Wiener Maupassant.
Und doch ist in diesem Stück, so eng verwandt es durch seine Gestalten und seine
Handlung dem „Anatol“ auch sei, ein Charakter vorhanden, das es hoch über die
„Anatol“=Suite emporhebt. Ich meine Christines Dater, den alten Weiring, an dem
man schon mehr verspürt als den jungen zwiespältigen Erotiker Schnitzler. Dater
Weiring kennt die gefahrvollen Wege seiner Tochter und mag sie nicht hindern; sie
soll alles ihr erreichbare Glück genießen, soll „einmal was zum Erinnern“ haben.
Dieser schlichte, für seine Person ganz unbegehrliche Diolinspieler, der ganz erfüllt
ist von dem Gedanken, den Lebensgenuß eines Angehörigen auf keine Weise zu
verkümmern — ihn hat bereits der reife Dichter geformt, dem das erotische Sehnen
und Irren nur ein Teil des vielen Menschenleidens ist.
Mit der „Liebelei“ betritt der Dramatiker Schnitzler den ihm gemäßen Weg,
nicht weil er bloß Erotisches und bloß Wiener Stimmungsmalerei bietet, sondern
weil er, auf alle Fragenlösungen verzichtend, sich dem Individuellen zukehrt. Glücks¬
möglichkeiten, Glücksberechtigungen, Glückshemmungen verschiedener, ganz bestimmter
Alenschen sind sortan sein Thema. Weil er aber diese Menschen nach seinem Bilde
formit, so sehen sich die meisten bei allen Verschiedenheiten doch ähnlich. Genauer:
man kann zwei Gruppen unter ihnen herausfinden: die schwankenden, zerissenen,
genußunfähigen Naturen und die einheitlichen skrupelloseren Genießer, jene nach dem
tatsächlichen, diese nach dem ersehnten Selbst des Dichters geformt. Dazwischen
tummeln sich etliche Leute, die der ichter gewissermaßen sich zur Beschämung auf
die Bühne gestellt hat. Als wollte er sich zeigen, wie leicht man bei einiger ver¬
1. Panphlets, Offprints
Bühne und Welt.
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Thesenspiel. Man bringt den blutjungen Hugo, den einzigen unverkümmerten Menschen,
das Licht im Hause Losatti, nach schwerem Sturz vom Pferde sterbend heim. Der
Dater, Professor und liberaler Abgeordneter, ist ein Ohrasenheld, ein Komödiant,
der gern sich und andere mit falschen Worten rührt, die Frau hat in der Ehe kein
Genügen gefunden, die stille, gute Tochter steht auf das Drängen des Daters im
Begriff, einen kaltherzigen Streber zu heiraten, Frau Emma, Losattis verwitwete
Schwägerin, ihn selber, der sie mit heimlichem Begehren verfolgte, hassend, suchte
in Zugo einen jüngeren Freund, wohl auch den künftigen Schwiegersohn, da ihre
siebzehnjährige Tochter schwärmerisch an dem Detter hängt. Diesen Alenschen nun
wirft der Sterbende mit krampfiger Eile und Willensanspannung entgegen: er habe
eine heimliche Geliebte und ein Kind, und diese illegitime Familie müsse — das sei
sein letzter Wille — müsse dauernd freundliche Aufnahme im Losattischen Hause finden.
Nun ist es trefflich ausgeführt, wie sich die einzelnen Angehörigen diesem Verlangen
gegenüber verhalten, wie die Herzen der Frauen rasch gewonnen sind, wie der Dater
zum Rein= und Jasagen gleicherweise zu schwach ist, wie er schließlich, mitleidig
mit sich selbst und stolz auf sein liberales Wesen, in eigener Person zu Toni Weber
geht, weil man „doch nicht das Stubenmädchen schicken kann, um die Geliebte und
das Kind vom jungen Herrn abzuholen“. Mit „dem Verlöschen des Sterbenden,
während Toni und das Kind an seinem Lager stehen, schließt der kraftvolle Akt.
Und dann tritt „die Frage“ ihre unheilvolle Herrschaft an, das Individuelle ver¬
schiebend und bedrückend, das Tragische schwächend, Verwirrung und peinliches
Schwanken stiftend...
Doch schon zwischen diesen Thesenstücken (war dem Dichter ein erstes völliges
Menschendrama geglückt, die „Liebelei“, die ihm den vielleicht größten und sicher
verhängnisvollsten Erfolg eingetragen hat. Hier siand ja das süße Mädel, von dem
er im „Anatol“ so schwärmerisch berichtet, leibhaftg auf der Bühne, hier schwelgte
man ganz anders noch als beim „Anatol“ in Stimmung, in Wiener Grazie, in
Wiener Ausgelassenheit und Wehmut, hier gab sich das Erotische ganz frei von allem
Ballast der Gedanken. Da war denn der Glücklich=Unglückliche ein für alle Male
abgestempelt als der Dichter des süßen Mädels, der Erotiker, der Wiener Maupassant.
Und doch ist in diesem Stück, so eng verwandt es durch seine Gestalten und seine
Handlung dem „Anatol“ auch sei, ein Charakter vorhanden, das es hoch über die
„Anatol“=Suite emporhebt. Ich meine Christines Dater, den alten Weiring, an dem
man schon mehr verspürt als den jungen zwiespältigen Erotiker Schnitzler. Dater
Weiring kennt die gefahrvollen Wege seiner Tochter und mag sie nicht hindern; sie
soll alles ihr erreichbare Glück genießen, soll „einmal was zum Erinnern“ haben.
Dieser schlichte, für seine Person ganz unbegehrliche Diolinspieler, der ganz erfüllt
ist von dem Gedanken, den Lebensgenuß eines Angehörigen auf keine Weise zu
verkümmern — ihn hat bereits der reife Dichter geformt, dem das erotische Sehnen
und Irren nur ein Teil des vielen Menschenleidens ist.
Mit der „Liebelei“ betritt der Dramatiker Schnitzler den ihm gemäßen Weg,
nicht weil er bloß Erotisches und bloß Wiener Stimmungsmalerei bietet, sondern
weil er, auf alle Fragenlösungen verzichtend, sich dem Individuellen zukehrt. Glücks¬
möglichkeiten, Glücksberechtigungen, Glückshemmungen verschiedener, ganz bestimmter
Alenschen sind sortan sein Thema. Weil er aber diese Menschen nach seinem Bilde
formit, so sehen sich die meisten bei allen Verschiedenheiten doch ähnlich. Genauer:
man kann zwei Gruppen unter ihnen herausfinden: die schwankenden, zerissenen,
genußunfähigen Naturen und die einheitlichen skrupelloseren Genießer, jene nach dem
tatsächlichen, diese nach dem ersehnten Selbst des Dichters geformt. Dazwischen
tummeln sich etliche Leute, die der ichter gewissermaßen sich zur Beschämung auf
die Bühne gestellt hat. Als wollte er sich zeigen, wie leicht man bei einiger ver¬