VI, Allgemeine Besprechungen 1, 4, Viktor Klemperer Bühne und Welt, Seite 11

1

box 36/4
Pamphlets offorints
Bühne und Welt.
365
gnügter Robustheit das Leben nehmen könnte, ohne alles bedenkliche Grübeln und
auch ohne alle heroische, zum Ausnahmetum berechtigende Tatkraft. Das macht für
mich den bitteren Humor des Lustspiels „Literatur“ und des hanebüchenen Schwankes
„Komtesse Mizzi oder der Familientag“ aus, daß ich durch die Worte dieser gleich¬
mütigen Ordner ihrer Lebenswirrnis immer aus Schnitzlers eigenem Alunde ein
fast neidisches „so leicht geht es auch“ zu hören vermeine.
Wie schwer Naturen, die ihm gleichen, mit dem Lben zu ringen haben, das
hat Schnitzler, bis zur Spitzfindigkeit individualisierend, im „Zwischenspiel“ gezeigt,
einem Drama, das er wohl aus Selbstironie „Komödie“ nannte. Der Kapellmeister
Amadäus und die Sängerin Cäcilie trennen sich nach mehrjähriger, glücklicher
Ehe, finden sich zu kurzem Liebesrausch wieder und müssen aufs neue und dauernder
zur Bewahrung ihrer Selbstachtung voneine der gehen, obwohl sie ihre geistige
und seelische Zusammengehörigkeit klar empfnden. Sie haben eine neue und freiere
Ehe führen wollen und sind bei diesem Unterfangen gescheitert. Sie wollten sich
immer wahrhaftige Freundschaft halten, ihren Sinnen aber sollte es erlaubt sein,
auch über die eheliche Grenze hinauszugreifen, und sie bedachten im Anfang wohl
nicht, wie schlecht es um die getrennte Buchführung zwischen seelischer und sinnlicher
Liebe steht. Als ihre Ehe ganz aufhörte, wollten sie wie Kameraden leben; als
dann die alte Liebe wieder die Kameradschaft stört, sind sie zu feinfühlig, ein so
brüchiges Verhältnis weiterzuführen.
Wie der Roman zur Novelle, verhält sich zu dieser dramatischen Ehestudie
Schnitzlers reichstes Gegenwartsstück „Der einsame Weg“. Im „Zwischenspiel“ ging
es um das Verhältnis der Gatten zueinander, im „Einsamen Weg“ tritt das Kind
entscheidend in den Dordergrund; im „Zwischenspiel“ lernt man uns die schwanken¬
den Ebenbilder Schnitzlers kennen, im „Einsamen Weg“ sucht er auch die geschlossenen
Charaktere, die Tatmenschen zu malen. Das Kernwort dieser Dichtung ist hier
schon einmal genannt worden, als es sich darum handelte, Anatels Zustände von .
wirklicher Liebe abzugrenzen. „Lieben heißt, für jemand andern auf der Welt sein.“
(Und der auf solchen Satz ein tiefes Drama basierte, heißt unablässig „der Erotiker“!)
Dat Julian Fichtner, der sich die Freiheit des künstlerischen Schaffens bewahren, und
Stephan von Sala, der sich die Freiheit des künstlerischen Lebensgenusses nicht ver¬
kümmern wollte, diese Weisheit zu spät erfassen, das macht den absteigenden Teil
ihres Lebensweges so einsam. Sie haben nur genießen, nur nehmen wollen, sie
haben sich selber niemals fortgeschenkt, und so haben sie denn auch niemals die
völlige und dauernde Hingabe einer andern Seele erfahren. Und es ist nur eine
Transposition des gleichen Themas ins Weibliche, was Schnitzler an der Einsamkeit
einer alternden Schauspielerin zeigt. Auch Irene Herms war nur die Genießende,
die Nehmende, genießend in ihrem Kunstschaffen, genießend in ihrer Liebesleidenschaft.
Dem naturgebotenen Geben, der Pflicht gegen das Kind, das sie hätte haben
können, hat sie sich entzogen. Doch nicht etwa als ein Moralisierender stellt Schnitzler
seinen Menschen diese ethische Rechnung auf. Sondern nur wie ein Arzt auf den
Willen der Natur aufmerksam macht, den er deshalb noch längst nicht für das aus¬
schließlich Gute hält. Denn der lebensdurstige Dichter begreift ja allzu gut jedes
Streben nach fessellosem Genuß, er weiß allzu genau, daß die im Nahmen der Pflicht
Bleibenden diesen Rahmen manchmal als Fessel empfinden müssen. So hat er denn
die Gegenspieler der Skrupellosen und Einsamen keineswegs zu ganz Glücklichen, für
ihre Tugend belohnten Menschen gemacht. Professor Wegrath, der die verlassene
Jugendgeliebte des genialeren Fichtner geheiratet und dessen Kind für den eigenen
Sohn hält, genießt doch nur ein schmerzliches Glück, obwohl Felix, als er die Wahr¬
heit erfährt, sich ganz als Wegraths Sohn fühlt und zu dem einsamen Fichtner, der
ihn um Kindesliebe aufleht, mit völliger Kälte sagt: „Ihr Sohn . .. es ist nichts
7