VI, Allgemeine Besprechungen 1, 5, Julius Bab, Seite 5

box 36/5
1. Panphlets, offprints
— 118
gegenwärtigen Lebens aufschlußreich sein; denn sobald wir er¬
kannt haben, was der Grundwille der dramatischen Form ist,
wird uns eine Betrachtung der Art und Weise, wie unsere Zeit
diesem Willen widerstrebt oder sich ihm verbündet, Wesent¬
liches über ihre innersten Lebenstendenzen verraten.
Was für ein Grundverhältnis des Menschen zur
Welt ist also in der dramatischen Form ausgedrückt?
Der dramatische Dichter verzichtet auf die außerordentlichen
Mittel, die der lyrische wie der epische Dichter besitzen, um
von ihrer Welterfahrung zu zeugen. Er spricht nicht unmittelbar
von seinen Gefühlen und er versagt sich auch das Recht kri¬
tischen Kommentars bezüglich jener scheinbar fremden Schicksale,
die er darstellt. Er beschränkt sich ganz und gar darauf, einen
Weltausschnitt durch die Worte miteinander sprechender, in
Wechselwirkung die Welt gestaltender Menschen zu geben.
Diesen außerordentlich hohen Preis aber bezahlt er offenbar, um
den möglichst intensiven Ausdruck für jenes Erlebnis zu er¬
reichen, das ihm das wichtigste ist: den das Erlebnis des
sprechend offenbarten, des von einem Willen durch
Worte zu einer Handlung schreitenden Menschen. Den
hohen Preis, der in der formalen Einschränkung des Dramas
liegt, ihn wird nur der Dichter bezahlen, für den der redende,
handelnde, sich bewegende Mensch das Wichtigste auf der Welt
leistet: die Offenbarung jener innersten, göttlichen Macht, jenes
Weltsinns, um dessen Erfassen im allerletzten Grunde sich doch
jedes künstlerische Streben allein müht. Die reine Erfüllung
der dramatischen Form wird also einer Zeit nur in dem Grade
möglich sein, in dem ihre Weltanschauung, ihre Religiosität eine
irdischrealistische, eine aktive ist. Von dem außerweltlichen,
dem nur leidend zu erfahrenden Gott kann ich nur aus meiner
rein innerlichen Erfahrung lyrisch zeugen; dramatisch gestalten
kann ich ihn nicht. Innerhalb des Kulturablaufes, in dem wir
selbst stehen, liegen deshalb die ersten Anfänge des Dramas bei
den Griechen, die in stolzem Schaffensdrang erfahren hatten,
daß nichts Gewaltigeres lebt als der Mensch, denen aber die
Würde des Menschen von einem unerforschlichen, außermensch¬
lichen Schicksal immer wieder so fürchterlich überwachsen wurde,
daß ihr Bedürfnis die dramatische Form sich niemals rein von
dem lyrischen Mutterboden der anbetenden Chorgesänge abheben
119
ließ. — Deshalb reifte der anderwärts
des Mittelalters kein eigentliches Drama,
gothischen Kunst von der Erde in den Hi
bloßen Darstellung des handelnden Mense
nüge finden konnte. — Deshalb erfüllte
Idee zum ersten Male im Zeitalter der
Mensch nicht nur das furchtbarste, sondern a
das heiligste, ja beinahe das einzige Erleh
einer enthusiastischen Menschenfrömmigke
von der lyrischen und epischen Form
abgeschiedene reine Drama, das Drama 5
Wenn wir zu der so begrifflich u
Form des Dramas nun die Versuche der
setzen wollen, so müssen wir uns erst über
Begriffs „Gegenwart“ verständigen.
redend nicht um den bestandlosen Augen
wir gerade sprechen, sondern nur um d
raum, der in seinem Beginn Entwicklungs
hat, an deren Auswirken wir uns heut
die „Gegenwart“, das heißt jenes Stück
dem wir uns fester, ununterbrochener ver
den andern, älteren Stücken der Vergang
nun für uns die Grenze dieses Gegen
gemein geistesgeschichtlichen Standpunkt
den „Anfang“ der Gegenwart zu fixieren
tiefstes Kennzeichen es wohl ist, nach
Glaubens dem gefährlich freien Mensch
suchen, könnte man, wenn nicht bis zu En
bis zu Goethe und Novalis zurückdatieren.
lichem, speziell auch auf dramatischem
wartsgrenze näher und deutlicher zu find
her die Wüste als die sicherste und kenn
zwei Ländern gilt, so kann man die
die wir als die gegenwärtige empfinden,
sicher abgrenzen durch die Wüste —
dramatischen Kunst zum mindesten das V
vom Tode Friedrich Hebbels bis zum A
manns bedeutete. In diesem Zeitraum g
wirklichen deutschen Dramatiker von