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es sei denn Ludwig Anzengruber, der aber zufolge eines ganz
persönlichen und sehr unglücklichen Schicksals auf Wegen
wandelte, die von der künstlerischen Entwicklung des übrigen
Deutschlands nicht beeinflußt waren und sie deshalb auch nicht
beeinflussen konnten. In diesem, ganz und gar materiellen In¬
teressen geweihten Zeitraum ward die Kunst überhaupt zu einem
Sonntagsnachmittagsspiel, bei dem man sich von dem „Ernst des
Lebens“ zu erholen wünschte. Und speziell auf der Bühne
feierten entweder Epigonen unserer großen Dramatiker Kostüm¬
feste, bei denen die Gestalten Schillers und Goethes in irgend¬
welchen neuen Kostümen aufzutreten und irgendwelche Vari¬
ationen über ihre berühmten Verse aufzusagen hatten. Oder
es ward nach dem Vorbild der Franzosen, aber ohne die soziale
Legitimation, die dergleichen Dinge im Lande ihrer Entstehung
haben, ein Beispiel mit anschließender Diskussion für irgend¬
eine kleine Frage der Gesellschaftsmoral geliefert. In diesem
Zeitraum gab es in Deutschland keine dramatische Dichtung —
das heißt kein Werk, in dem eine Leidenschaft der Weltbe¬
zwingung durch dialogische Menschengestaltung zum Ziele strebte,
kein Werk, das die Auseinandersetzung des Zeitgeistes mit dem
Problem dieser ganz objektiven Form so fortführte wie Lessing,
Goethe und Schiller, Kleist, Grillparzer und Hebbel sie begonnen
hatten. Jener leidenschaftliche Aufschwung nun, durch den sich
in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts die Geister vom
leeren, formalen Spiel wieder der naturwüchsigen, der höchst
ernsthaften und höchst lebendigen Kunst zuwandten, jener Auf¬
schwung, der die wüste Zeit beendet und der deshalb den Beginn
unserer „Gegenwart“ bedeutet, er ist in den Literaturgeschichten
unter dem Schlagwort der „naturalistischen Revolution“ ver¬
zeichnet.
Das Schlagwort des Naturalismus, das vor einem Viertel¬
jahrhundert die Geister in so wohltätige Bewegung setzte, ist wohl das
Vieldeutigste von allen, die die Kunstgeschichte je ausgegeben
hat. Bedeutet es nur die Erneuerung des künstlerischen Lebens
durch die fromme Kraft leidenschaftlicher Naturergründung (und
dies etwa war der Sinn, in dem die Brüder Hart, die ersten
kritischen Beweger dieser Zeit, zu den Waffen riefen), so war
damit eine Parole gegeben, die nichts Originelles sagt, aber doch
eine jener großen Wahrheiten kündet, die von Zeit zu Zeitlimmer
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wieder von leidenschaftlichen Mensch
wußtsein der Mitlebenden zurückgeru
deutet es (und das war der Sinn, d
eine Berliner Literatenschule dem Schlag
von der Kunst, deren einziges und höc
Natu: und nichts als Natur zu werden
groteskesten Irrtümer des ästhetischen E
ja nie etwas anderes als die Umsetzun
vom Geist stilisierte Welt ist, und 8
„Naturalismus“ sehr erschöpfend bemen
Bilde des Hundes Bello hätte, wenn
eben noch einen Bello. Dramatische
ralismus sind übrigens von dem fanatis
Holz und seinem impressionistisch gean
Stil von Phonogrammen tatsächlich ge#
wicklungswert dieser Stiltendenz wan
auch Hauptmanns Kunst aus dieser D
regungen gewann. Holz endete beim s
stück, Schlaf bei der völlig entkräfteten
sinfonie. — Bezieht man aber das Sch
nicht auf solch eine selbstverständliche
oder eine so törichte Vorstellung von
Formprozesses, bezieht man es vielmeh
Weltgefühl, das in der neuen Kunst g#
es erst recht zweideutig. Denn das ga
nehmen mit der Natur, das freilich d
differente Voraussetzung bildet, kann
Aufblühen aller aktiven, herrschenden, v#
bedeuten — der Mensch als Naturkraf
jewsky bedeutet das naturalistische
des Menschen als durchaus passiven N
losen, von durchströmenden Außenkräft
gehobenen Atoms. — Und dies zeigt
die der geistige Tumult der 80er Ja
tatsächlich ganz so mannigfach und ve
dieser Begriff des Naturalismus vield
liche Ideen von Marx und von Tolstoi
heidnische von Nietzsche und vom Dary
gleichzeitig und fast gleich stark dama
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es sei denn Ludwig Anzengruber, der aber zufolge eines ganz
persönlichen und sehr unglücklichen Schicksals auf Wegen
wandelte, die von der künstlerischen Entwicklung des übrigen
Deutschlands nicht beeinflußt waren und sie deshalb auch nicht
beeinflussen konnten. In diesem, ganz und gar materiellen In¬
teressen geweihten Zeitraum ward die Kunst überhaupt zu einem
Sonntagsnachmittagsspiel, bei dem man sich von dem „Ernst des
Lebens“ zu erholen wünschte. Und speziell auf der Bühne
feierten entweder Epigonen unserer großen Dramatiker Kostüm¬
feste, bei denen die Gestalten Schillers und Goethes in irgend¬
welchen neuen Kostümen aufzutreten und irgendwelche Vari¬
ationen über ihre berühmten Verse aufzusagen hatten. Oder
es ward nach dem Vorbild der Franzosen, aber ohne die soziale
Legitimation, die dergleichen Dinge im Lande ihrer Entstehung
haben, ein Beispiel mit anschließender Diskussion für irgend¬
eine kleine Frage der Gesellschaftsmoral geliefert. In diesem
Zeitraum gab es in Deutschland keine dramatische Dichtung —
das heißt kein Werk, in dem eine Leidenschaft der Weltbe¬
zwingung durch dialogische Menschengestaltung zum Ziele strebte,
kein Werk, das die Auseinandersetzung des Zeitgeistes mit dem
Problem dieser ganz objektiven Form so fortführte wie Lessing,
Goethe und Schiller, Kleist, Grillparzer und Hebbel sie begonnen
hatten. Jener leidenschaftliche Aufschwung nun, durch den sich
in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts die Geister vom
leeren, formalen Spiel wieder der naturwüchsigen, der höchst
ernsthaften und höchst lebendigen Kunst zuwandten, jener Auf¬
schwung, der die wüste Zeit beendet und der deshalb den Beginn
unserer „Gegenwart“ bedeutet, er ist in den Literaturgeschichten
unter dem Schlagwort der „naturalistischen Revolution“ ver¬
zeichnet.
Das Schlagwort des Naturalismus, das vor einem Viertel¬
jahrhundert die Geister in so wohltätige Bewegung setzte, ist wohl das
Vieldeutigste von allen, die die Kunstgeschichte je ausgegeben
hat. Bedeutet es nur die Erneuerung des künstlerischen Lebens
durch die fromme Kraft leidenschaftlicher Naturergründung (und
dies etwa war der Sinn, in dem die Brüder Hart, die ersten
kritischen Beweger dieser Zeit, zu den Waffen riefen), so war
damit eine Parole gegeben, die nichts Originelles sagt, aber doch
eine jener großen Wahrheiten kündet, die von Zeit zu Zeitlimmer
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wieder von leidenschaftlichen Mensch
wußtsein der Mitlebenden zurückgeru
deutet es (und das war der Sinn, d
eine Berliner Literatenschule dem Schlag
von der Kunst, deren einziges und höc
Natu: und nichts als Natur zu werden
groteskesten Irrtümer des ästhetischen E
ja nie etwas anderes als die Umsetzun
vom Geist stilisierte Welt ist, und 8
„Naturalismus“ sehr erschöpfend bemen
Bilde des Hundes Bello hätte, wenn
eben noch einen Bello. Dramatische
ralismus sind übrigens von dem fanatis
Holz und seinem impressionistisch gean
Stil von Phonogrammen tatsächlich ge#
wicklungswert dieser Stiltendenz wan
auch Hauptmanns Kunst aus dieser D
regungen gewann. Holz endete beim s
stück, Schlaf bei der völlig entkräfteten
sinfonie. — Bezieht man aber das Sch
nicht auf solch eine selbstverständliche
oder eine so törichte Vorstellung von
Formprozesses, bezieht man es vielmeh
Weltgefühl, das in der neuen Kunst g#
es erst recht zweideutig. Denn das ga
nehmen mit der Natur, das freilich d
differente Voraussetzung bildet, kann
Aufblühen aller aktiven, herrschenden, v#
bedeuten — der Mensch als Naturkraf
jewsky bedeutet das naturalistische
des Menschen als durchaus passiven N
losen, von durchströmenden Außenkräft
gehobenen Atoms. — Und dies zeigt
die der geistige Tumult der 80er Ja
tatsächlich ganz so mannigfach und ve
dieser Begriff des Naturalismus vield
liche Ideen von Marx und von Tolstoi
heidnische von Nietzsche und vom Dary
gleichzeitig und fast gleich stark dama