1. aphlets offprints
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leidenschaftliche Darstellung menschlicher Willenskräfte. Aus
einem Kämpfen und Ringen steigt die Strömung jeder Szene
auf, gewitterhaft blitzt zielgerichtete Kraft aus jeder Replik, und
ein mächtiger Stoß kriegerischen Willens peitscht die atemlose
Flucht kleiner Szenen an uns vorbei, in denen nichts lebt, nichts
Wahrheit, Wesen und Geltung hat, als der Mensch; der
redende, der handelnde, der sich bewegende Mensch. So er¬
innert denn der Stil dieses Wedekindschen Erstlings ungemein
an alle deutsche Jüngerschaft Skakespeares, vor allem aber an
die Dramatik des Sturm und Drang. Freilich, es war schon
in diesem Erstling zu spüren und wurde allmählich klarer und
klarer, daß in diesem Wedekind mehr vom Geist der Lenz und
Klinger als von dem Goethes war, daß sein Gefühl vom Menschen
ein enges, wesentlich animalisches, sein Begriff vom Willen ein
sinnlicher war, und daß damit von einer wesentlich anderen
Seite her ihm in der Ausbildung der dramatischen Form enge
Grenzen gezogen seien. In Poëmen — die, wie er mit wahr¬
haft verzweifelter Inbrunst immer wieder versichert, keineswegs
scherzhaft gemeint sind — verkündet Wedekind als sein Ideal
den animalisch reinen und rein animalischen Menschen, die
hemmungslos entfaltete Sinnlichkeit. Aber als geistiges, auch
geistiges Wesen erlebt der Mensch nur die tragisch gleich¬
gewichtigen Konflikte, die Konflikte, in denen es nicht Recht
und Unrecht, sondern zweierlei Recht gibt, und die der un¬
erschöpfliche Stoff des Dramas, dieser vom Wort geschaffenen
geistigen Welt sind. Wedekind, für dessen innerste Natur eine
wortsparende Neigung zur Pantomine verräterisch ist, kann seine
rein sinnliche Menschheit nur wütend gegen Schranken anrennen
lassen, von deren Recht und Sinn sie unmöglich ctwas begreifen
kann. Und so erhalten seine Stücke allmählich (bei seiner höchst
aktiven Natur keinen lyrisch monologischen, aber) einen mono¬
manisch agitatorischen Charakter. — In Frühlings-Erwachen
hat er ein so enges Stückchen Welt ausgeschnitten, daß er mit
seiner einen physischen Leidenschaft doch fast ihren ganzen
Wahrheitsgehalt erschütternd geben konnte. Die Welt der
Pubertät kreist wirklich um das sinnliche Phänomen. Und doch
zeigt schon hier der groteske Karrikaturstil, mit dem die Feinde
der Jugend hingesetzt werden, daß Wedekind die Welt der
Kultur, des Geistes weniger in ihren lebensfeindlichen Aus¬
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wüchsen als in ihrem ganzen Wesen haßt; und dies völlig
widerstandslose Uberspringen von der lebendigsten Gestalt zur
phantastischsten Fratze zeigt schon hier die tiefe Temperaments¬
verwandtschaft mit dem nachgeborenen, dem wüstesten Sohn
des Sturm und Drangs: Christian Dietrich Grabbe. Wedekinds
nächstes und stärkstes Bühnenwerk Der Erdgeist, das in einer
ganzen Kette von Schlachten ein Geschlecht irgend wie geistiger
Männer an der ungebrochenen Sinnlichkeit einer Frau zugrunde
gehen läßt, gibt dann das Wedekindsche Hauptthema mit ge¬
sammelter Energie. Aber schon in den vier breiten, geordneten
Theaterakten, die nach dem Beispiel der Franzosen eine Aus¬
wahl großer, typischer Exempel setzen, fängt die demonstrative
Begier an zu wirken. Seitdem wiederholt Wedekind in furcht¬
barer Monotonie mit immer weniger dichterischem Gefühl und
immer wütenderer schriftstellerischer Beredsamkeit das gleiche
Motiv. Sein eigenes Schicksal als das eines unverstandenen
Propheten ist das einzige Thema, das er noch hinzugewonnen
hat, und das er mit seiner Agitation für die Freiheit des Trieb¬
lebens verflicht. Der geistlose, uneinsichtige Fanatismus seiner
Willensmenschen prägt sich in einem Dialog, der in Wahrheit
ein vollkommen verbohrtes Aneinandervorbeisprechen der Unter¬
redner ist, charakteristisch genug aus, und für das groteske
Ineinander der größten und der kleinsten Dinge (die sich ja
freilich nur für einen kulturell eingestellten Blick unterscheiden!)
erfindet er noch immer zuweilen Situationen von epigrammatischer
Stärke. Aber diese Reste künstlerischer Ausdruckskraft hindern
nicht die Erkenntnis, daß wir in Wedekind heute viel mehr als
einen dramatischen Dichter, einen szenischen Agitator für eine
ungeheuer beschränkte Idee erblicken müssen, und daß der Ver¬
gleich, den man auf gewisse äußere Imitationsscherze hin, zwischen
seinem jüngsten Opus „Franziska“ und Goethes „Faust“ anzustellen
beliebte, etwas schlechthin blasphemisches hat.
Der gleichen dramaturgischen Erkenntnis wie Wedekind,
der Erkenntnis nämlich, daß zur vollkommenen Erfüllung der
dramatischen Form nicht nur die vitale Energie, sondern auch
die geistige Organisation des Menschen erlebt werden muß, führt
auf etwas anderen Wegen Herbert Eulenberg zu, der mit
Recht unter den jüngeren deutschen Dramatikern in letzter Zeit
bekannt geworden ist. Mit Recht, denn Eulenberg ist ein Dichter,
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