VI, Allgemeine Besprechungen 1, 5, Reik zwei Texte Imago, Seite 8

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1. Panphlets offbrints
Theoder Reit
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dankens!, daß diese Einstellung tatsächlich den psychischen Ersatz einer
ähnlichen Selbsteinschätzung der primitiven Menschen und der Kinder
darstellt. Ist nun so die Machtsphäre, die solche Personen sich zu¬
schreiben, eine ungemein große, eine fast göttliche, so zeigen sie
durch ihr esieches Gewissene (lbsen), daß sie dem Menschlich-All¬
zumenschlichen nahe genug sind. Denn für die Götter gibt es weder
gut noch böse, sie plagen weder Skrupel noch Zweifel, nur die
Menschen kennen die Hemmungen der Moral und fühlen sich ihr
gegenüber für die unheilbringende Macht ihrer Wünsche verant¬
wortlich.
Ein neues Beispiel für die Allmacht der Gedankeng, das wir
den -Marionetteng entnehmen, soll uns tiefere Aufschlüsse über
den Zusammenhang dieses sonderbaren Glaubens mit der Dichtung
gewähren. In dem Einakter sDer Puppenspielerg erzählt Georg einem
Freunde von einer Eisenbahnfahrt: JEs war früh um sechs, ein
Wintermorgen. Mir gegenüber sitzt ein Mensch, lehnt in der Ecke
und schlummert. Ich kenn ihn nicht, ich hab ihn nie gesehen, er
interessiert mich nicht im allergeringsten. Plötzlich geht mir der
Gedanke durch den Kopf: „Stirble und mit diesem Gedanken sch
ich ihn geraume Zeit an. Er schläft weiter und rührt sich nicht. Ich
blicke wieder zum Fenster hinaus in die beschneite Landschaft, wie
es meine Art ist, und vergesse den Kerl vollkemmen. Wir kommen
in Wien an. Ich erhebe mich, steige aus, der andere nicht. Der
andere bleibt sitzen, regungslos. Ich rufe Leute herbei — man trägt
ihn hinaus — er war tot tot. Die Arzte nannten es * Herzschlage.
Der zuhörende Freund bemerkt dazu: Bedenfalls ein sonderbarer
Zufallz. Georg weist diesen Ausdruck als deplaciert ab. „Zufali? —
Weißt du denn, wieviel Tag für Tag auf der Welt geschieht, weil
es jemand insgehein wollte? oder auch nur leichtfertig aussprach!
Ahnst du etwas von der geheimnisvollen Macht, die in schöpferischen
Naturen steckt?e
Der Akzent liegt hier auf den Worten eschöpferischen Naturene.
Freilich ist in diesem Sinne jeder Zwangsneurotiker, der an die
Allmacht der Gedankens glaubt, eine schöpferische Natur. Doch
Georg ist ein Dichter und schon als solcher ein Schaffender. Er ist
ein kleiner Gott, der Menschen erstehen, sich lieben, sich vernichten
läßt. -Marionetteng sind die Gestalten zeiner Phantasie, in seiner,
des Puppenspielers, Hand.
Er erklärt uns selbst, wie diese Gabe der Phantasieschöpfung
mit dem Glauben an die Allmacht der Gedankens zusammenhängt
und wie sie nur einen schwachen Ersatz für jenen ursprünglicheren
Wunsch bildet. Denn einst hat er Eduard und Anna einander zu¬
geführt. 2Ihr wart Puppen in meiner Hand. Ich lenkte die Drähte.
Und so hab ich — wie es Leuten meiner Art wohl gegeben sein
mag — vielleicht noch tiefer gewirkt als ich wollte ... und ich darf
Imago 1913.
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