VI, Allgemeine Besprechungen 1, 5, Reik zwei Texte Imago, Seite 18

1. Panphlets Offorints

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toren in Betracht: dallgemeine Teuerung, der Zuzug nach
der Stadt, die Umwandlung Deutschlands aus einem Agrar¬
in einen Industriestaat, wo der Landhunger unserer Be¬
völkerung nicht gestillt werden kann.
Eines aber steht fest: Der Alkohol ist ein furchtbares
Gift für unsere Rasse, er erzeugt nicht nur körperlich
minderwertige Existenzen, sondern kommt ätiologisch bei
einer großen Reihe konstitutioneller Seelenabnormitäten
und Verbrechern in Betracht. Darum muß der Kampf gegen
den Alkohol zur Rettung unserer Rasse unerbittlich und
konsequent durchgeführt werden; statt Vermehrung der
Irren- und Zuchthäuser müssen Schulen wahren Menschen¬
tums errichtet werden, in welchen deterministisches Denken
Tausende konstitutioneller Seelenabnormitäten zu einer so¬
zial denkenden und fühlenden NNeuen Generationg erzieht.
Das Geschlechterverhältnis bei Arthur
Schnitzler von Dr. phil. Theodor
Reik
m Premierenabend des „Weiten Landese sagte mir
∆ eine geistreiche Dame: slch liebe Arthur Schnitzler
sehr, doch hier kann ich nicht mehr mitgehen. Ein Mann,
der seiner Frau fast zürnt, daß sie einen andern nicht er¬
hört hat, der sie zur Untreue treibt und dann als eifer¬
süchtiger Wüterich sich gebärdet —?e
Dieselbe Dame vermißte bei Schnitzler das Sichstürzen
in die Wogen der Zeit, eine offene Stellungnahme zu den
brennenden Fragen der Gegenwart. Um solchen Ein¬
würfen zu begegnen, müßte man sprechen: gerade in der
Schilderung dieser feinsten und kompliziertesten Gefühls¬
prozesse, dieser verborgenen und sich widersprechenden
psychosexuellen Unterströmungen liegt Schnitzlers Anteil¬
nahme. Soll man uns heute predigen, daß man auch ohne den
Ring am Finger lieben könne oder daß man uneheliche
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OtecK:
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Kinder wie eheliche behandeln müsse? Man soll als
Dichter wahrlich nicht moralische Selbstverständlichkeiten
sagen. (Im Leben freilich muß man noch dafür kämpfen.)
Was der Dichter Schnitzler gestaltet, ist vielmehr dieses:
das Wechselnde der Gefühle, die Liebe zu einer und die
gleichzeitige Hingezogenheit zu andern, die innigste Nei¬
gung und der lustvolle Verrat, tiefe Verbundenheit und
ewige Fremdheit, Wahrheit und Lüge im Liebesspiel.
Und dies alles mit einer Heiterkeit, die Ernst nicht aus¬
sondern einschließt. Ist es für unser Gefühl noch richtig,
den 2Tristang als Vorbild eines Liebesdramas aufzusteilen
(neben *Herodes und Mariamneg)? Woran scheitert hier
die Liebe? Ein eifersüchtiger Gatte ist da, äußere Ver¬
hältnisse hemmen die Vereinigung. Bei Schnitzler aber
scheitert sie an sich selbst, an der Vergänglichkeit mensch¬
licher Regungen, an der tiefen Unsicherheit irdischer
Beziehungen.
Es bleibt zu zeigen, daß in den Werken dieses Dich¬
ters ein neues Ethos und ein neues Pathos sich ankündigen.
Das wesentliche Gefühl, das in der Gestaltung der Ge¬
schlechterbeziehungen bei ihm durchdringt, ist der Zweifel.
Er ist ein konsequenter Skeptiker. „Wir spielen immer;
wer es weiß, ist klugla (Es bleibt zu fragen, ob dieser
Wissende auch glücklich ist.)
Der Zweifel eines leichtsinnigen Melancholikers durch¬
zieht schon die beschwingten Szenen des rAnatola. Er
nimmt allmählich immer ernstere Formen an; schen in
einem Tendenzstücke: „Das Märchenz. Der Schriftsteller
Fedor Denner ist ein Vorkämpfer jener freieren Welt¬
anschauung, welche der sozialen Minderschätzung der
außerehelich liebenden Frau entgegentritt. Doch dieser
selbe Mann leidet unsägliche Qualen, da er Bräutigam
eines solchen Mädchens ist. Und doch hat das alles mit
Moral so gar nichts zu tun, sondern eher mit Außerungen
eines besonderen, heutigen, verfeinerten Liebesgefühles.
(Oder nicht vielmehr mit einer Zurückgebliebenheit uralter
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