VI, Allgemeine Besprechungen 1, 5, Rosenthal Wildgans, Seite 2

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1. Panphlets, offprints
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Friedrich Rosenthal, Anton Wildgans
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aus der kolportagehaften Wirklichkeit einer irdischen
Großes schließen läßt, wie alle, die den Dichter in
Vergeltung zu den lichten Höhen evangelischer Ver¬
sich am Maße des Erlebten abnehmen, ist er von der
söhnung gefunden.
Lyrik ausgeschritten und durch einen theatralischen
Wie er wurde und wuchs, Sehen und Dichten
Versuch deutlichster Realistik zu einem Drama höheren
lernte, wie sich äußere Schicksale zu inneren Erleb¬
Stils und weiteren Horizonts gelangt. Das ist auch
nissen wandelten und sich daraus ein unveräußerliches
nicht weiter verwunderlich. Denn müßig heute zu be¬
Gesetz seines Schaffens formte, läßt sich wohl nicht
tonen, daß eine Lyrik, die in einer greifbarsten, zum
einfacher, intensiver und anschaulicher ausdrücken, als
innern Erlebnis gewandelten Anschauung der Dinge
mit seinen eigenen Worten, die er mir vor kurzem auf
wurzelt, in der Unmöglichkeit weiterer Ausdrucksfähig¬
die Bitte um ein paar Lebensdaten sandte und die
keit schließlich zum erlösenden, treibenden Element der
ich hier als beinahe dokumentarisch folgen lasse:
Zwiesprache greift, zumal dort, wo sozial=menschliche
Probleme ergreifendster Art zum Reden zwingen.
„Ich bin geboren am 17. April 1881 zu Wien.
Dieses große Liebesgefühl zu einer trostlos dunkeln
Als ich 4 Jahre alt war, starb meine Mutter, als ich
Welt der Armut und Ausgestoßenheit, dieses Heilands¬
16 Jahre zählte, ward mein Vater von einer schweren
lächeln der wenigen, die des „Menschen Herz und Geist“.
Krankheit befallen, die ihm für den Rest seines Lebens
erkennend, dem „Pöbel ihr Gefühl, ihr Schauen offen¬
die Möglichkeit benahm, mir Lenker und Erzieher zu
barten“ und dafür „gekreuzigt und verbrannt“ wur¬
sein. So war ich von frühester Jugend an mir selbst
den, ist der innerste Kern von Wildgans' Poesie. Das
überlassen. Meine Stiefmutter kümmerte sich zwar
Schicksal der Christus und Johannes Huß ist heute
um meine Leiblichkeit und außerdem hegte sie von früh
freilich nicht mehr zu befürchten, und die erhöhte Ent¬
an meine musikalischen Talente. Meine eigentlichen
rückung ins unwirklich Dichterische nimmt dem lauten
Anlagen wurden von niemandem gehegt, überhaupt
Fanfarenton der Anklage wohl die Schärfe aber nicht
kaum beachtet, obwohl sich poetische Anlagen früh
das Blut des Herzens und die Träne des Mitleids.
andeuteten. Höchstens wurden sie als Hemmungen
Und von allen, die heute im jungen Wien soziale
in den vorgeschriebenen Studien aufgefaßt. Mein
Poesie betreiben — manche meisterlich wie Alphons
Vater war, als er noch gesund war, ein reger Lieb¬
Petzold — hat keiner so unmittelbar die Gabe der
haber der Klassiker, zumeist Schillers und Shake¬
Schönheit des scheinbar Häßlichen, die Liebe im schein¬
speares, welch letzteren er jeden Abend im Bette bis
bar Haßverlorenen aufglänzen zu lassen. Wie schon
zum Einschlafen las. Moderne Literatur drang durch
der Titel seines ersten Gedichtbuches die Fähigkeit
ihn nicht an mich heran. So kam es, daß ich sie fast
kündet, sich die Melancholie der sterbenden Welt zur
gar nicht kannte, ehe mir ein erhöhtes Taschengeld an
Ahnung eines neuen, zweiten Frühlings zu vergolden:
der Universität die Möglichkeit gab, mir moderne
Bücher selbst zu kaufen. Im Gymnasium, das ich bei
„Ist das nicht wundersam ——— daß mich der purpur¬
blonden
den P. P. Piaristen im VIII. Bezirke besuchte, war
Herbstfarben Glut so an dein Haar gemahnt,
ich ein zumeist sehr schwacher Schüler gewesen, be¬
Daß meine Seele nach versehnten Monden
sonders in Mathematik und Physik. Erst später, als
In letzter Stunde noch Erfüllung ahnt —
nicht mehr der Schulzwang auf mir lastete, entdeckte ich
Daß sie den Frühling der Kastanienzweige,
Liebe und einige Fähigkeit zu mathematischem Denken.
Die ihre Leuchter wieder angezündet,
Wie ihren eignen zweiten Lenz empfindet —
Überhaupt, alles, was ich mir aneignete, verdanke ich
dem Lernen nach freier Wahl. Sowohl was den Stoff
so klingen die hellen Glocken der Versöhnung auch
des Gymnasiums anbelangt, als auch bezüglich der
weiterhin schon aus den Überschriften der folgenden
juristischen Materien an der Universität. Immer,
und lösen ihren tiefen Sinn ganz unbefangen in bib¬
solange ich für einen bestimmten Zweck etwas lernen
lischer Einfachheit auf. „Und hättet der Liebe nicht“
mußte (für Prüfungen usw.), war meine Auffassung
heißt das zweite, von dem ein anderer wiener Dichter
durch darin gelegenen Zwang gehemmt. Das Inter¬
behauptete, daß es „aus einer tiefen menschlichen Er¬
esse erwachte immer erst, wenn ich nicht mehr mußte,
griffenheit“ geboren sei, „aus der Ehrlichkeit eines
nämlich nicht von außen her mußte. Dieser Wesens¬
Gefühls, das sich, und sei es unter stärkster seelischer
zug eignet mir auf allen Gebieten. Um viele äußere
Anspannung, mit seiner nächsten Umwelt auseinander¬
Erfolge bin ich dadurch gekommen, daß ich bei Ge¬
setzen will“. Und „In Ewigkeit, Amen“ nennt sich
legenheiten, wo man etwas von mir erwartete, fast
jenes kleine Drama, das den ersten, mehr äußerlich
immer versagte oder mindestens qualitativ enttäuschte.
gelungenen Versuch darstellt, subjektiv heißes Empfin¬
Damit hängt zusammen, daß ich auf literarischem Ge¬
den in objektiv klare Gestaltung auflösen zu lassen.
biete niemals auch nur eine Kleinigkeit zu irgend
Diesem folgte dann „Armut“, die apologetische Ver¬
einem äußeren Zwecke geschrieben habe, weder zu einer
klärung sozialen Elends im Einzelschicksal der Aus¬
Gelegenheit, noch zum Erwerb. Das ist bei mir nicht
erwählten, die zum Teil Genies und zum Teil Narren
Anständigkeit, sondern Unmöglichkeit. Es muß übri¬
sind. Und seltsam genug hat eben nun, in diesen
gens schon ein sehr starkes Muß sein, das mich über¬
Tagen, der an sich und seinem Werk rastlos Arbeitende
haupt dazu bringt, etwas zu schreiben. Ich trage alle
auch hier in dem einzigen zu sehr erdgebundenen Teil
meine Sachen oft jahrelang mit mir herum, ehe ich sie
des Ganzen, in der Schlußszene des vierten Aktes, da
der Tod am Bette des Armen erscheint, den Weg forme. So verwerte ich selten das zeitlich unmittelbare
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