VI, Allgemeine Besprechungen 1, 5, Völker Krieg als Erziehung, Seite 2

dies möglich. Die Vorkampfer der Aufklärung setzten sich mit aller Wärme
für den Duldungsstaat ein, der neben der herrschenden Kirche auch andere
religiöse Gemeinschaften zuließ; es mußte der spanische Erbfolgekrieg und der
nordische Krieg kommen, um die konfessionelle Frage in den Hintergrund zu
schieben, ehe der Toleranzstaat in Erscheinung treten konnte. Das moderne
Verfassungsleben ist ohne die Napoleonischen Kriege kaum denkbar; erwogen
wurde die neue Staatsform lange vor der frarzösischen Revolution. Ohne den
deutsch=französischen Krieg 1870/71 kein geeinigtes Deutschland. In Besseill—
reifte nur aus, was Tausende vorher ersehnt und erbeten hatten.
Aber an keinen Krieg der Weltgeschichte wurden so viele Wünsche und
weitreichende Pläne geknüpft, wie an den gegenwärtigen. Elf Staaten haben
zu den Waffen gegriffen in der Überzeugung, daß ihre Staatsidee es also er¬
fordere. Die Neutralen, welche nicht unmittelbar in den Krieg eingreifen, sind
noch nie dermaßen in Mitleidenschaft gezogen worden, wie diesmal. England
will seine unbeschränkte Weltherrschaft zur See sichern, Frankreich durch die
Wiedergewinnung von Elsaß=Lothringen und die Zertrümmerung des angeb¬
lichen preußischen Militarismus die französische Sprachgrenze möglichst weit
nach dem Osten hinausschieben, Rußland träumt von der Vereinigung sämt¬
licher Slawen unter des Zaren Zepter (Panslawismus), zu deren Erfüllung
der Besitz von Konstantinopel ihm notwendig erscheint, Serbien hofft auf die
Errichtung des großserbischen Reiches an der Adria, Italien begeht einen in
der Weltgeschichte beispiellosen Treubruch zwecks „Befreiung“ der „unerlösten“
Stammesgenossen, Japan glaubt, der Zeitpunkt sei für den Imperialismus der
gelben Rasse gekommen; die Vereinigten Staaten von Nordamerika werden
alsdann nicht ruhige Zuschauer bleiben dürfen, wenn sie nicht auf ihre bisherige
Weltstellung werden verzichten wollen. Nimmt man hinzu die polnische und
ukrainische Frage, so gewinnt man den Eindruck, als müßte die ganze Welt
ein anderes Gepräge erhalten, wenn auch nur ein geringer Teil aller jener
Ideen sich verwirklichen sollte, derentwegen der Weltbrand entstanden ist.
Die verbündeten Zentralmächte, Österreich=Ungarn und Deutschland, haben
den Krieg nicht gewollt, aber da er ihnen einmal aufgezwungen ist, sind sie in ihn
selbstverständlich mit ganz bestimmten Erwartungen eingetreten. Die einzelnen
nichtdeutschen Volksstämme der beiden Staaten hegen dabei ihre Sonderwünsche.
Im tiefsten Grunde wird jedoch in diesem Weltkrieg über das Schicksal des
deutschen Volkes entschieden. Es ist ein Ringen um Sein oder Nichtsein der
deutschen Kultur im weitesten Sinne dieses Wortes entbrannt. Bei der bewußten
oder unbewußten Abhängigkeit der mitteleuropäischen Volksstämme von dieser
als der überlegeneren, schlägt bei der Entscheidung in dem Riesenkampf auch
für sie die Schicksalsstunde. Sie gehören alle zu der einen mitteleuropäischen
abendländischen Kulturgemeinschaft, die sie gegen den Ansturm des Ostens ver¬
teidigen. Deshalb müßte Österreich=Ungarn geschaffen werden, wenn es nicht
da wäre. Durch den Krieg wird nicht dieses oder jenes Kulturgebiet betroffen,
auf dem Spiele steht die deutsche Kultur als Gesamterscheinung im Völker¬
leben. Wir haben den Eindruck, daß auf allen Gebieten vieles anders werden
muß, und so ist die eingehende Erwägung aller dieser Fragen als Vorbereitung
eines gedeihlichen Friedens ebensowenig zu entbehren, wie die treue Wacht in
den Schützengräben. Wer den Dingen etwas tiefer auf den Grund geht, dem
erschließt sich ein unübersehbares Arbeitsgebiet. Mit bloßer Arbeitsteilung ist
nicht viel erreicht. Ein Gebiet greift in das andere über. Die Fragen lassen
sich nicht gesondert behandeln. Die nationalen Belange sind von den politischen
schwer zu scheiden und diese hängen auf das engste mit den wirtschaftlichen
zusammen; die Klassenkämpfe der letzten Jahrzehnte haben zur Genüge gezeigt,
in welcher Weise die wirtschaftliche Lage auf die Gestaltung der sozialen Ver¬
hältnisse zurückwirkt. So ist es eine einseitige Betrachtung der Dinge, wenn
man den Krieg bloß als Wendepunkt etwa des Wirtschaftslebens darstellt.
Ein so gewaltiges Ringen mit einem solchen Aufgebot von Kräften, wie es
die Welt noch nicht erlebt hat, der erste eigentliche Wirtschaftskrieg und
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