VI, Allgemeine Besprechungen 1, 5, Völker Krieg als Erziehung, Seite 6


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Dr. Karl Völker, Der Krieg als Erzieher zum deutschen Idealismus. 259
Sittlichkeit gehoben, den Staatsgedanken vertieft, das Volksbewußtsein ge¬
stählt ... und dennoch hat sich dieser Idealismus bald überlebt.
Es kamen andere Mächte auf, welche ihn zurückdrängten. Von dem Höhen¬
flug der Befreiungskriege hatte man sich der Wirklichkeit zugewandt und diese
so ganz anders befunden, als der Idealismus sie erträumt. In der Politik,
Wirtschaft und Wissenschaft — diese drei beherrschen hauptsächlich das Leben
der Gesamtheit — war man im Laufe der Zeit zu einer Auffassung der Dinge
gelangt, die mit jener des Idealismus nicht im entferntesten übereinstimmte.
Wir betrachten kurz diese Wandlungen im einzelnen.
Nach dem Wiener Kongresse beginnt ein kleinliches Feilschen zwischen
dem Volk und den Regierungen um politische Rechte. Uneingedenk dessen, daß
an des Volkes Entschlossenheit des Korsen Macht zerschellt war, suchen in der
Metternichschen Ara diese das Volk einem selbstherrlichen Polizeistaat zu unter¬
werfen. Die besten Kräfte verbrauchen sich in einem beständigen Kleinkrieg
gegen die leitenden Kreise, bis das Jahr 1848 die teilweise Erfüllung der
Freiheitswünsche brachte, aber anderseits die ganze Zerrissenheit und Zerfahren¬
heit der deutschen Kleinstaaterei aufdeckte. Der Verlauf der Frankfurte: National¬
versammlung, die schließlich mit Polizeigewalt auseinandergejagt wurde, nach¬
dem sie erfolglos versucht hatte, das deutsche Kaisertum wieder herzustellen,
kennzeichnet zur Genüge die unerquicklichen Verhältnisse. Fruchtlos waren aber
alle die Bestrebungen, die darauf hinzielten, dem Volke einen Anteil an der
Leitung der Staatsgeschäfte zu sichern, doch nicht geblieben. Sie haben die
Gründung des neuen Deutschen Reiches wesentlich vorbereitet und haben auch
die Deutschen Österreichs in ihrem Volksbewußtsein gekräftigt. Im politischen
Kampf ging aber anderseits vieles verloren, was der deutsche Idealismus mit
zärtlicher Sorgfalt gepflegt hat. Man hätte erwarten können, daß die Ereignisse
des Jahres 1870/71 dem deutschen Idealismus zu neuer Blüte verhelfen werden;
aber es schoben sich andere Interessen vor.
Das Wirtschaftsleben nahm einen ungeheuren Aufschwung, Handel und
Industrie blühten auf. Deutschland meldete sich zwar als letzte Großmacht bei
der Verteilung der außereuropäischen Gebiete, aber es setzte doch bald mit einer
zielbewußten Kolonialpolitik ein. Einfuhr und Ausfuhr wuchsen ins Riesen¬
hafte. Die Technik steigerte durch die Vervollkommnung der Verkehrsmittel
sowie durch Herstellung der verschiedenen Maschinen die Umsatzmöglichkeit.
Kühn erhebt sich in kurzer Zeit aus dem Nichts eine stattliche Kriegsflotte, der
die verbündete österreichisch=ungarische Marine würdig an die Seite tritt. Beide
schützen die Handelsflagge ihrer Staaten in fernen Meeren und Ländern. Der
deutsche Kaufmann und Fabrikant ist überall zur Stelle. Das deutsche Volk
ist reich geworden, das deutsche Kapital eine Macht auf dem Weltmarkt. Mit
diesem Wachsen des Volksvermögens hängen die Klassenkämpfe zusammen,
deren Wurzeln allerdings zeitlich weiter zurückliegen. Es kommt die Sozial¬
demokratie auf, die der bestehenden Gesellschaftsordnung den Krieg erklärt und
es offen ausspricht, daß sie ihre ganze festgefügte Organisation in den Dienst
der gemeinsamen Sache stelle, dem vierten Stand einen möglichst großen An¬
teil an Besitz und Vermögen zu erzwingen. Die Frage nach der Berechtigung
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