VI, Allgemeine Besprechungen 1, 5, Völker Krieg als Erziehung, Seite 8

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Dr. Karl Völker, Der Krieg als Erzieher zum deutschen Idealismus. 261
physikalisch=chemische Vorgänge zurückzuführen. Alles, was ist, ist demnach
durch die gesetzmäßig sich abwickelnde Bewegung des Stoffes bedingt. Diesem
wurden auch die organischen Vorgänge, das Leben, der Mensch, die Seele
unterworfen. Das Seelenleben wurzelt nicht, wie es der Idealismus haben
wollte, in einer höheren geistigen Seinsweise, sondern ist lediglich eine Er¬
scheinung, welche der Stoff neben vielen anderen hervorbringt. Die Seelenvor¬
gänge sind im Gehirn lokalisiert, jeder äußere Reiz an der bestimmten Stelle
des Gehirns löst einen ganz bestimmten seelischen Vorgang aus. In dem von
Wilhelm Wundt in Leipzig eingerichteten Institut für Experimentalpsychologie
wird die Seele daraufhin untersucht. Die Seelenkunde wird eine Art Natur¬
wissenschaft. Das Seelenleben ist nicht der Ausfluß des Geistigen, sondern der
Geist das Produkt des Stoffes. Durch volkstümliche Schriften von Büchner,
Moleschott, Karl Vogt, die reißenden Absatz fanden, werden diese Gedanken
in die breite Masse des Volkes hineingetragen und verdichten sich bei dieser
zu einer ausgesprochen materialistischen Weltanschauung. Bei der gebildeten
Oberschichte ist der Begriff „materialistische Weltanschauung“ verpönt, aber im
Denken und Handeln ist sie von ihr stark beeinflußt. Nüchterne, ruhige Wirk¬
lichkeitsmenschen, welche sich durch Stimmungen von dem einmal einge¬
schlagenen Ziel nicht abbringen lassen, im Kampf mit Naturgewalten, von
denen sie sich abhängig wissen, hart geworden sind in dieser Umwelt empor¬
gewachsen.
Ihren Niederschlag findet diese Stimmung in der Richtung der zeitge¬
nössischen Literatur, welche man mit Rücksicht auf ihre Herkunft Naturalismus
bezeichnet. Die beliebtesten und gefeiertesten Schriftsteller gehören ihr an: Gerhard
Hauptmann, Hermann Sudermann, Karl Schönherr, Max Halbe, Arthur Schnitzler,
Otto Ernst, Gustav Frenssen, Hermann Bahr, Rudolf Hans Bartsch, Felix Salten
u. a. m. Es sind nicht überragende Helden, Träger weltbewegender Ideen, sondern
Wirklichkeitsmenschen aus dem Leben herausgegriffen, welche sie künstlerisch
gestalten. Nicht hochfliegende Gedankenzusammenhänge, starke Willensmotive
bestimmen deren Tun, sondern vielmehr sind sie in ihren Entschlüssen abhängig
von natürlichen Zusammenhängen. Besonders deutlich wird dies an dem
neuesten Schauspiel Schönherrs dem „Weibsteufel“: Drei Menschen, Er, Sie und
der Andere, die zugrunde gehen, weil die Triebe, die durch ihr Zusammentreffen
in ihnen erwachen, stärker sind, als daß sie sie bezwingen könnten. In
dem viel bewunderten „Glaube und Heimat“ ist der Glaube nicht als Bekennt¬
nistreue gefaßt, sondern als ein Trieb, der stärker ist als der Trieb zur Heimat.
Rott gesteht e# seiner Frau unumwunden zu, er wisse eigentlich gar nicht,
weshalb er so handle, es treibe ihn eben so. Der naturalistische Determinismus
wird an erblich belasteten Gestalten verdeutlicht. In Gerhard Hauptmanns
„Vor Sonnenaufgang“ opfert der Doktor Helene, weil er infolge der Trunk¬
sucht von deren Vater für seine Nachkommenschaft fürchtet. Mit Heldengestalten,
die einen Schiller und Goethe begeistert haben, weiß diese Richtung nicht viel
anzufangen. Sein Bismarck=Epos hat Frenssen bald aus dem Buchhandel
zurückgezogen und Gerhard Hauptmanns Festspiel anläßlich der Breslauer
Ausstellung hat ebenfalls nicht eingeschlagen. Es liegt mir vollständig ferne,
WNN