VI, Allgemeine Besprechungen 1, 5, Völker Krieg als Erziehung, Seite 9

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1. Panphlets, offprints
262 Dr. Karl Völker, Der Krieg als Erzieher zum deutschen Idealismus.
den künstlerischen Wert dieser Dichtungen herabzusetzen. Der Naturalismus
hat von seinen Voraussetzungen aus vollendete Kunstwerke geschaffen. Man
denke beispielsweise an die drei Gestalten im „Weibsteufel“. Die Natur¬
schilderungen des Naturalismus gehören zu dem Besten dieser Art. Der soziale
Zug, das Mitleid mit den wirtschaftlich notleidenden Gesellschaftsschichten, der
Grundgedanke so vieler Werke naturalistischer Schriftsteller, hat dieser Richtung
einen nicht gering einzuschätzenden ethischen Einfluß gesichert.
Den Idealismus hat aber gerade diese Literatur mehr als irgend ein
anderer Faktor zurückgedrängt. Die beiden Philosophen, welche ihre Weltan¬
schauung dank der anmutigen Form und faßlichen Art, mit der sie sie vortrugen,
in die weitesten Kreise der Gebildeten hineintrugen, Arthur Schopenhauer und
Eduard von Hartmann, Idealisten, insoferne sie den Weltgrund und die Ent¬
wicklung des Seienden als etwas Geistiges fassen, haben den alten optimistischen
Idealismus vollends unmöglich gemacht; der eine durch seine Predigt von der
Verneinung des Willens zum Leben, der andere durch seine Philosophie des
Unbewußten. Die Begeisterung für Schopenhauer erklärt sich nicht zuletzt aus
der Enttäuschung darüber, daß die Werte des einstigen Idealismus ent¬
schwunden waren. Im tiefsten Grunde der Volksseele lebte aber die Sehnsucht
nach großen Idealen fort. So wird die Nietzsche=Begeisterung verständlich.
Dessen Verkündigung von dem Willen zur Macht, eine scharfe Absage auch
an den Naturalismus, hat in ihrer Wirkung das Gegenteil von dem hervor¬
gebracht, was dem einsamen Denker als Ideal des Übermenschentums vor¬
schwebte: ungezügeltes Begehren und Genießen. Trotz aller Anfeindungen
gegen Nietzsche gerade von seiten der Vertreter einer idealistischen Weltbe¬
trachtung darf jedoch dieser als Wegbereiter des neuen Idealismus gelten.
Die Aufnahme, die er bei Ungezählten fand — sein „Also sprach Zaratustra“
ist neben dem Neuen Testament und Goethes Faust das gelesenste Buch in
den Schützengräben — beweist, daß sich die Menschenseele für die Dauer von
dem Fluge ins Unermeßliche nicht zurückhalten ließ.
Seit einiger Zeit gewinnt man immer mehr den Eindruck, daß sich das
Blatt wieder zugunsten des Idealismus gewendet habe. Es kommt ein Neu¬
kantianismus auf; Hegel und Fichte werden wieder viel genannt; man spricht
sogar von einer Hegelwiederbelebung; es werden Stimmen laut, daß Goethe
und besonders Schiller als Jugendbildner der modernen Dichtung vorzuziehen
seien. Während meiner Berliner Studienzeit machte es Eindruck, als der
amerikanische Austauschprofessor Münsterberg Vorlesungen über idealistische
Weltanschauung ankündigte und eine nach Hunderten zählende Zuhörerschaft
sich einstellte. Dieser Umschwung zugunsten des Idealismus hängt zusammen
mit Ergebnissen der Wissenschaft.
In ihrem Siegeslauf glaubte die mechanistische Naturwissenschaft alle
Welträtsel lösen zu können, aber sie mußte sich überzeugen, daß sie in den
letzten Fragen alles Seins über Theorie und Hypothese nicht hinauskomme.
Es ist ihr nicht gelungen, das Seelenleben in allgemeinen Naturgesetzen restlos
aufgehen zu lassen. Gerade die Untersuchungen Wilhelm Wundts, die wir
früher erwähnt haben, haben dies zur Genüge bestätigt. Noch immer ist der