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1. Pamphlets, offprints
34
Herbert Cysarz.
den heutigen Tag — an das nicht so sehr willens= als gefühls¬
starke Drama Goethes ein gräzisierend=lyrisches nicht römisch¬
heroisches Drama, ein Drama des verschwiegenen Seelenzitterns
à la Egmont oder Tasso nicht des grimmen Fäusteballens à la
Fiesco oder Tell. Schon in der „Sappho“ und am reinsten in
„Des Meeres und der Liebe Wellen gattet sich österreichischeste
mit Goethischer Atmosphäre: orphisch und stygisch die Dämonen
des Meers und der Nacht und des Sterbens, darüber aber
lind und lockend Frühlingsstimmen der seligen Inseln — ein
Wienerisch=Weimarischer Traum von verhauchtem Kuß und
verdorbener Treue. Grillparzers Schicksal ist nicht im Pfeil
eines Tell, sondern in der Entsagung eines Rustan, oder im
Fluch des armen Spielmanns, dieses unbekannten österreichi¬
schen Soldaten, der doch, zerknittert und zertreten, ein Endchen
vom großen Herzen Karls V. birgt, das blaublütige Hamlet¬
Wissen um Größe und Glück, die spanisch=katholische Flucht
in den „sosiego“ den wunschlosen Frieden, und in den „desen¬
gano“, den verzichtenden Ekel, des Pilgrims von San Juste:
„Nun bin ich vor dem Tod den Toten gleich Und fall' in
—
nur Grillparzer, der seit
Trümmer wie das alte Reich“
Velasquez größte Psycholog der Habsburger, hat seinem armen
Spielmann, diesem Armen im Geist, eine weltgeschichtliche
Seele zu geben vermocht, ein Teil der Kraft, die unzermürbt
und unverkümmert, umflackert von allen Feuern lateinischen
Bluts, in Grillparzers temperament=Verwandtem Balthasar
Gracian brennt, oder auch in der leidenschaftlichen Enthalt¬
samkeit und enthaltsamen Leidenschaft eines Jusepe Nibera
(Grillparzers Selbstporträt Rudolf II. im „Bruderzwist“ trägt
einige runde Ribera=Züge), oder gar in der eisig=schwärmerischen
Starre des Greco, an die insonderheit die „Jüdin von Toledo“
mahnt. Grillparzer — und dies alles sind Jahrhundert=Merk¬
male — sucht nicht das Freie und Starke, vielmehr das Ge¬
bundene und Geheime jedes Charakters, mit Dickens zu reden
die „whims“, die den Lean Paul und Gottfried Keller und
Wilhelm Raabe oder auch den großen Russen, von Gogol bis
zu Dostojewski, so vertrauten skurrilen Lappalien und Kuriosi¬
täten (Dostojewskis Lieblings=Epitheton „sveobrazny“, „eigen¬
bildlich“ — farblos im Deutschen zumeist als „bemerkenswert“
und im Französischen als „remarquable“ wiedergegeben —
drückt diese Neigung am gegenständlichsten aus); Grillparzer
besitzt im Grund einen (noch nirgends gewürdigten) unge¬
wie etwa Grillparzers
heueren Sinn für das Komische
Gevatter Schopenhauer seinem ursprünglichen Sehen nach
geradezu ein romantischer Satiriker bleibt; es bildet nur einen
Bruch im Mann und Künstler Grillparzer, daß er — die ange¬
stammte Ebene verlassend
— auch Gestalten und Seelenlagen,
die wesentlich komisch geschaut und gewürdigt sind, klassizistische
Tragik aufbürdet — selbst Bankban im „Treuen Diener bleibt
1. Pamphlets, offprints
34
Herbert Cysarz.
den heutigen Tag — an das nicht so sehr willens= als gefühls¬
starke Drama Goethes ein gräzisierend=lyrisches nicht römisch¬
heroisches Drama, ein Drama des verschwiegenen Seelenzitterns
à la Egmont oder Tasso nicht des grimmen Fäusteballens à la
Fiesco oder Tell. Schon in der „Sappho“ und am reinsten in
„Des Meeres und der Liebe Wellen gattet sich österreichischeste
mit Goethischer Atmosphäre: orphisch und stygisch die Dämonen
des Meers und der Nacht und des Sterbens, darüber aber
lind und lockend Frühlingsstimmen der seligen Inseln — ein
Wienerisch=Weimarischer Traum von verhauchtem Kuß und
verdorbener Treue. Grillparzers Schicksal ist nicht im Pfeil
eines Tell, sondern in der Entsagung eines Rustan, oder im
Fluch des armen Spielmanns, dieses unbekannten österreichi¬
schen Soldaten, der doch, zerknittert und zertreten, ein Endchen
vom großen Herzen Karls V. birgt, das blaublütige Hamlet¬
Wissen um Größe und Glück, die spanisch=katholische Flucht
in den „sosiego“ den wunschlosen Frieden, und in den „desen¬
gano“, den verzichtenden Ekel, des Pilgrims von San Juste:
„Nun bin ich vor dem Tod den Toten gleich Und fall' in
—
nur Grillparzer, der seit
Trümmer wie das alte Reich“
Velasquez größte Psycholog der Habsburger, hat seinem armen
Spielmann, diesem Armen im Geist, eine weltgeschichtliche
Seele zu geben vermocht, ein Teil der Kraft, die unzermürbt
und unverkümmert, umflackert von allen Feuern lateinischen
Bluts, in Grillparzers temperament=Verwandtem Balthasar
Gracian brennt, oder auch in der leidenschaftlichen Enthalt¬
samkeit und enthaltsamen Leidenschaft eines Jusepe Nibera
(Grillparzers Selbstporträt Rudolf II. im „Bruderzwist“ trägt
einige runde Ribera=Züge), oder gar in der eisig=schwärmerischen
Starre des Greco, an die insonderheit die „Jüdin von Toledo“
mahnt. Grillparzer — und dies alles sind Jahrhundert=Merk¬
male — sucht nicht das Freie und Starke, vielmehr das Ge¬
bundene und Geheime jedes Charakters, mit Dickens zu reden
die „whims“, die den Lean Paul und Gottfried Keller und
Wilhelm Raabe oder auch den großen Russen, von Gogol bis
zu Dostojewski, so vertrauten skurrilen Lappalien und Kuriosi¬
täten (Dostojewskis Lieblings=Epitheton „sveobrazny“, „eigen¬
bildlich“ — farblos im Deutschen zumeist als „bemerkenswert“
und im Französischen als „remarquable“ wiedergegeben —
drückt diese Neigung am gegenständlichsten aus); Grillparzer
besitzt im Grund einen (noch nirgends gewürdigten) unge¬
wie etwa Grillparzers
heueren Sinn für das Komische
Gevatter Schopenhauer seinem ursprünglichen Sehen nach
geradezu ein romantischer Satiriker bleibt; es bildet nur einen
Bruch im Mann und Künstler Grillparzer, daß er — die ange¬
stammte Ebene verlassend
— auch Gestalten und Seelenlagen,
die wesentlich komisch geschaut und gewürdigt sind, klassizistische
Tragik aufbürdet — selbst Bankban im „Treuen Diener bleibt