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1. Panphlets, offprints
Herbert Cysarz.
36
Zugleich freilich hat Nietzsche den enervierendsten Ausdruck für
die „azurnen Augenblicke voll frevelhafter Schönheit“, eine
unvergleichliche Meisterschaft in allen „Tönen eines schwer¬
mütigen und schläfrigen Glücks“ die eindringlichsten Farben für
die Siesta der katzenbuckeligen Klippe und schmeichelnden Welle
und brütenden Mittagsglut — und hierin ist Nietzsche zugleich
ein Bruder fast Verlaines. Diese letzteren Züge nun sind es,
die sich die jüngste Wiener Dichtung einverleibt (wie der Ber¬
liner Naturalismus an Nietzsches Willens=Gewalten: an die
anarchische „Umwertung aller Werte“ an das „Mit=dem¬
Hammer=Philosophieren“ an das imperialistische Eroberungs¬
und Herrschafts=Evangelium sich geheftet hatte).
In diesem — vorerst nur in raschesten Rückblick zusammen¬
gerafften — Stück Werden nun liegt überall ein Nerv auch noch
der letzten Dichtung Alt=Oesterreichs eingeschlossen: Windstille
ist das Medium solcher Kunst und Geistigkeit, Sosiego, manch¬
mal fast die abgesperrte Luft des Krankenzimmers. Es ist
ein zu geringem Teil nur seefahrendes Volk, das jenen Formen
huldigt — es fehlt das Ethos und die Aesthetik des „Navigare
necesse est, vivere non est necesse“; es ist ein nur an Einzel¬
stellen mit dem Hochgebirg oder mit karger Kruste kämpfen¬
des Volk; es ist ein vielfach satt in tausend Ränke der Kabale
geeintes geducktes geschwichtigtes Volk. Ueberall duldend=be¬
trachtsames Weltgefühl, seelische Feinheit und Zersplitterung,
viel Begabung und wenig Schicksal! Grillparzers Antipode
Schiller bleibt ein fortreißendes Vorbild dessen, wie ein
Mensch von überwiegend mittleren Kräften durch seine Sendung
über sich hinausgetragen wird: viele in jeder Hinsicht durch¬
schnittliche Eigenschaften werden in Schillers Schöpfung und
Schicksal ins Monumentale gesteigert; Grillparzer aber offen¬
bart, wie ein ursprünglich allseitig überragender Genius durch
mangelnde Aufgabe, durch Ausbleiben alles kairös unter sich
selbst hinabgedrückt wird. Schiller baut auch aus wohlfeilem
Stoff, aus Granit, aus Sandstein, bisweilen aus Lehm —
doch er baut stets zyklopisch trutzendes Bollwerk; Grillparzer
findet manchen Diamanten, doch es bleibt meistens bei unge¬
faßten und unverbundenen Kristallen. Schiller wird nationaler
Heros, Schillers Drama Fest= und Weihespiel dadurch, daß
er — ein Dichter der überpersönlichen Bindung, ein Klassiker der
Tyche und ein Priester der Ananke — noch die Kleinen Großes
wollen lehrt, daß er auch schwachen Willen in starke Geschicke
verstrickt, daß er noch in brüchigem Tun und Gelingen die
letzten menschlichen Werte emporwallen läßt; hingegen Grill¬
parzer lehrt bestenfalls aus den menschlichen Nöten des Eigen¬
gängers die dichterischen Tugenden des Realisten Psycholo¬
gisten Individualisten gewinnen: sein ist die unerhörteste Be¬
wältigung des Singulärsten und des Subjektivsten, des priva¬
testen Charakters, aller geheimsten Schrullen und Schnörkel der
9
Alt=Österreichs letzte Dicht
Persönlichkeit — und auch dieses m
Wiener Dichtung noch um 1900.
Alle Lebendigkeit auch dieser P
Vitalität des Willens (wie diese i
testantischen Literaturen den Vorran
lischen) als vielmehr eine eigentün
alles Leben ist vorab Betrachten, Ho#
stehendes Sich=anschmiegen, kein „V
Im Weltbild eines Hofmannsthal
zu fehlen: Ein jedes ist in einem je
das vorübergehende Erscheinen eines
und kein Nachher kennt, das Ich ein
Streben und Werden gibt. In die
Drama entweder zum Spiel oder
mannsthals jüngster „Turm' verkör
form eines historischen Mysteriums
Dramen, bei allem Seelenblick und
spektive, in Hinsicht der drastischen
Kurve, der Tat= und Willens=Mot
nicht ernst genommen werden können
Und manches streift fast an Maeterl
periment unternimmt, noch aus den
des Wollens kat’ exochén) die Zeit
sitzen um einen Toten herum, doch wi
gewahr; der Tod steht am Bett eine
der Greis in der Ecke hat seine Ank
liche Rund der Familie ist, lang vor
düstert vom Ertrinkungstod des jün
Geschehen also bleibt Schein oder 2
eine tragische Atmosphäre (wie einst
drama), kein tragisches Handeln u
solche Sicht allen heldischen Willen
bekanntesten Dramas (Maeterlinck
„Seid nicht heroisch“ — noch die L#
gemein neuromantischen) Dichtung zu
dem in excelsis unheroischen Mythol
dieser Stelle, welch umstürzende Wu
Bergsons, ganz und gar auf die
Raums gegründet, in diese statische
Ansprung einer — in Oesterreich nu
genbewegung.)... Solchem Schlag bl
ein Seher voll grandioser Rezept
femininster Tat= und Willenlosigkeit
ist zugleich das vielleicht feinner
weibischeste, das in unserem ganzen
den anderen schreiben konnte; wohl
Rilkes Vers stehen: „Und meine Se
es rührt an einen manchmal schier
S
S
Aseden¬
S
1. Panphlets, offprints
Herbert Cysarz.
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Zugleich freilich hat Nietzsche den enervierendsten Ausdruck für
die „azurnen Augenblicke voll frevelhafter Schönheit“, eine
unvergleichliche Meisterschaft in allen „Tönen eines schwer¬
mütigen und schläfrigen Glücks“ die eindringlichsten Farben für
die Siesta der katzenbuckeligen Klippe und schmeichelnden Welle
und brütenden Mittagsglut — und hierin ist Nietzsche zugleich
ein Bruder fast Verlaines. Diese letzteren Züge nun sind es,
die sich die jüngste Wiener Dichtung einverleibt (wie der Ber¬
liner Naturalismus an Nietzsches Willens=Gewalten: an die
anarchische „Umwertung aller Werte“ an das „Mit=dem¬
Hammer=Philosophieren“ an das imperialistische Eroberungs¬
und Herrschafts=Evangelium sich geheftet hatte).
In diesem — vorerst nur in raschesten Rückblick zusammen¬
gerafften — Stück Werden nun liegt überall ein Nerv auch noch
der letzten Dichtung Alt=Oesterreichs eingeschlossen: Windstille
ist das Medium solcher Kunst und Geistigkeit, Sosiego, manch¬
mal fast die abgesperrte Luft des Krankenzimmers. Es ist
ein zu geringem Teil nur seefahrendes Volk, das jenen Formen
huldigt — es fehlt das Ethos und die Aesthetik des „Navigare
necesse est, vivere non est necesse“; es ist ein nur an Einzel¬
stellen mit dem Hochgebirg oder mit karger Kruste kämpfen¬
des Volk; es ist ein vielfach satt in tausend Ränke der Kabale
geeintes geducktes geschwichtigtes Volk. Ueberall duldend=be¬
trachtsames Weltgefühl, seelische Feinheit und Zersplitterung,
viel Begabung und wenig Schicksal! Grillparzers Antipode
Schiller bleibt ein fortreißendes Vorbild dessen, wie ein
Mensch von überwiegend mittleren Kräften durch seine Sendung
über sich hinausgetragen wird: viele in jeder Hinsicht durch¬
schnittliche Eigenschaften werden in Schillers Schöpfung und
Schicksal ins Monumentale gesteigert; Grillparzer aber offen¬
bart, wie ein ursprünglich allseitig überragender Genius durch
mangelnde Aufgabe, durch Ausbleiben alles kairös unter sich
selbst hinabgedrückt wird. Schiller baut auch aus wohlfeilem
Stoff, aus Granit, aus Sandstein, bisweilen aus Lehm —
doch er baut stets zyklopisch trutzendes Bollwerk; Grillparzer
findet manchen Diamanten, doch es bleibt meistens bei unge¬
faßten und unverbundenen Kristallen. Schiller wird nationaler
Heros, Schillers Drama Fest= und Weihespiel dadurch, daß
er — ein Dichter der überpersönlichen Bindung, ein Klassiker der
Tyche und ein Priester der Ananke — noch die Kleinen Großes
wollen lehrt, daß er auch schwachen Willen in starke Geschicke
verstrickt, daß er noch in brüchigem Tun und Gelingen die
letzten menschlichen Werte emporwallen läßt; hingegen Grill¬
parzer lehrt bestenfalls aus den menschlichen Nöten des Eigen¬
gängers die dichterischen Tugenden des Realisten Psycholo¬
gisten Individualisten gewinnen: sein ist die unerhörteste Be¬
wältigung des Singulärsten und des Subjektivsten, des priva¬
testen Charakters, aller geheimsten Schrullen und Schnörkel der
9
Alt=Österreichs letzte Dicht
Persönlichkeit — und auch dieses m
Wiener Dichtung noch um 1900.
Alle Lebendigkeit auch dieser P
Vitalität des Willens (wie diese i
testantischen Literaturen den Vorran
lischen) als vielmehr eine eigentün
alles Leben ist vorab Betrachten, Ho#
stehendes Sich=anschmiegen, kein „V
Im Weltbild eines Hofmannsthal
zu fehlen: Ein jedes ist in einem je
das vorübergehende Erscheinen eines
und kein Nachher kennt, das Ich ein
Streben und Werden gibt. In die
Drama entweder zum Spiel oder
mannsthals jüngster „Turm' verkör
form eines historischen Mysteriums
Dramen, bei allem Seelenblick und
spektive, in Hinsicht der drastischen
Kurve, der Tat= und Willens=Mot
nicht ernst genommen werden können
Und manches streift fast an Maeterl
periment unternimmt, noch aus den
des Wollens kat’ exochén) die Zeit
sitzen um einen Toten herum, doch wi
gewahr; der Tod steht am Bett eine
der Greis in der Ecke hat seine Ank
liche Rund der Familie ist, lang vor
düstert vom Ertrinkungstod des jün
Geschehen also bleibt Schein oder 2
eine tragische Atmosphäre (wie einst
drama), kein tragisches Handeln u
solche Sicht allen heldischen Willen
bekanntesten Dramas (Maeterlinck
„Seid nicht heroisch“ — noch die L#
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Raums gegründet, in diese statische
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genbewegung.)... Solchem Schlag bl
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femininster Tat= und Willenlosigkeit
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den anderen schreiben konnte; wohl
Rilkes Vers stehen: „Und meine Se
es rührt an einen manchmal schier
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