VI, Allgemeine Besprechungen 1, 6, Herbert Cysarz, Seite 9


1. Pamphlets, Offprints box 36/6
Alt=Österreichs letzte Dichtung (1890—1914). 37
Herbert Cysarz.
Persönlichkeit — und auch dieses macht ihn zum Schutzgeist der
Nietzsche den enervierendsten Ausdruck für
Wiener Dichtung noch um 1900.
blicke voll frevelhafter Schönheit“ eine
Alle Lebendigkeit auch dieser Poesie ist vorweg nicht so sehr
sterschaft in allen „Tönen eines schwer¬
Vitalität des Willens (wie diese in weiten Strecken der pro¬
n Glücks“ die eindringlichsten Farben für
testantischen Literaturen den Vorrang behauptet, etwa der eng¬
uckeligen Klippe und schmeichelnden Welle
lischen) als vielmehr eine eigentümliche Gefühls=Vitalität —
gsglut — und hierin ist Nietzsche zugleich
alles Leben ist vorab Betrachten, Horchen und Lauschen und ver¬
saines. Diese letzteren Züge nun sind es,
stehendes Sich=anschmiegen, kein „Vorwärts“ und kein „Durch“.
Biener Dichtung einverleibt (wie der Ber¬
Im Weltbild eines Hofmannsthal scheint oft geradezu die Zeit
an Nietzsches Willens=Gewalten: an die
zu fehlen: Ein jedes ist in einem jeden, alles Geschehen ist nur
ung aller Werte“ an das „Mit=dem¬
das vorübergehende Erscheinen eines Zustands der kein Vorher
ken“ an das imperialistische Eroberungs¬
und kein Nachher kennt, das Ich ein Universum in dem es kein
gelium sich geheftet hatte).
Streben und Werden gibt. In diesem Reich wird selbst das
erst nur in raschesten Rückblick zusammen¬
Drama entweder zum Spiel oder zum Traum — noch Hof¬
erden nun liegt überall ein Nerv auch noch
mannsthals jüngster „Turm' verkörpert die schwierige Zwitter¬
Alt=Oesterreichs eingeschlossen: Windstille
form eines historischen Mysteriums — wie etwa Schnitzlers
er Kunst und Geistigkeit, Sosiego, manch¬
Dramen, bei allem Seelenblick und aller metaphysischen Per¬
irrte Luft des Krankenzimmers. Es ist
spektive, in Hinsicht der drastischen Fabel, der reinen Ereignis¬
nur seefahrendes Volk, das jenen Formen
Kurve, der Tat= und Willens=Motivationen oft schlechterdings
s Ethos und die Aesthetik des „Navigare
nicht ernst genommen werden können (und auch gar nicht sollen).
nest necesse“; es ist ein nur an Einzel¬
Und manches streift fast an Maeterlinck, der ja das säkulare Ex¬
gebirg oder mit karger Kruste kämpfen¬
periment unternimmt, noch aus dem Drama (dieser Kunstform
ielfach satt in tausend Ränke der Kabale
des Wollens kat’ exochén) die Zeit auszumerzen: die Blinden
eschwichtigtes Volk. Ueberall duldend=be¬
sitzen um einen Toten herum, doch werden sie des nur allmählich
hl, seelische Feinheit und Zersplitterung,
gewahr; der Tod steht am Bett einer Kranken, doch vorerst nur
wenig Schicksal! Grillparzers Antipode
der Greis in der Ecke hat seine Ankunft vernommen; das trau¬
fortreißendes Vorbild dessen, wie ein
liche Rund der Familie ist, lang vor jeder Botschaft, schon um¬
end mittleren Kräften durch seine Sendung
düstert vom Ertrinkungstod des jüngsten Töchterchens — alles
gen wird: viele in jeder Hinsicht durch¬
Geschehen also bleibt Schein oder Trug; Maeterlinck offenbart
sten werden in Schillers Schöpfung und
eine tragische Atmosphäre (wie einst das romantische Schicksals¬
ientale gesteigert; Grillparzer aber offen¬
drama), kein tragisches Handeln und Ringen; natürlich tötet
glich allseitig überragender Genius durch
solche Sicht allen heldischen Willen: das bekannteste Wort des
durch Ausbleiben alles kairös unter sich
bekanntesten Dramas (Maeterlincks „Monna Vanna') heißt
pird. Schiller baut auch aus wohlfeilem
noch die Liebe der Wiener (und ins¬
„Seid nicht heroisch“.
aus Sandstein, bisweilen aus Lehm —
gemein neuromantischen) Dichtung zum Tristan' gilt immer auch
hklopisch trutzendes Bollwerk; Grillparzer
dem in excelsis unheroischen Mythos Europas. (Man ahnt an
anten, doch es bleibt meistens bei unge¬
dieser Stelle, welch umstürzende Wucht der Lebensbegriff Henri
denen Kristallen. Schiller wird nationaler
Bergsons, ganz und gar auf die Werte der Zeit nicht des
hma Fest= und Weihespiel dadurch, daß
Raums gegründet, in diese statische Sphäre trägt: der epochale
siberpersönlichen Bindung, ein Klassiker der
Ansprung einer — in Oesterreich nur allzu schüchternen — Ge¬
r der Ananke — noch die Kleinen Großes
genbewegung.) ... Solchem Schlag blutsverwandt ist auch Rilke,
auch schwachen Willen in starke Geschicke
ein Seher voll grandioser Rezeptivität, auf Kosten aller¬
in brüchigem Tun und Gelingen die
femininster Tat= und Willenlosigkeit; Rilkes Buch über Rodin
erte emporwallen läßt; hingegen Grill¬
ist zugleich das vielleicht feinnervigste wie das vielleicht
s aus den menschlichen Nöten des Eigen¬
weibischeste, das in unserem ganzen Kulturkreis ein Mann über
hen Tugenden des Realisten Psycholo¬
den anderen schreiben konnte; wohl über jeder Seite könnte
n gewinnen: sein ist die unerhörteste Be¬
Rilkes Vers stehen: „Und meine Seele wird ein Weib vor dir“:
lärsten und des Subjektivsten, des priva¬
es rührt an einen manchmal schier byzantinischen Paroxysmus
geheimsten Schrullen und Schnörkel der