VI, Allgemeine Besprechungen 1, 6, Herbert Cysarz, Seite 10

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Panphlets Offpf
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Herbert Cysarz.
des Wachens und Hinhorchens, bis zur Stigmatisierung („Juar¬
dandolo tremo di castità“). Solches Geblüts zeichnet Rilke
den Helden Harald, der gleichzeitig vorwärts und rückwärts lebt,
sein eigenes Schicksal erfüllt und das aller Ahnen aufsaugt —
und der mit Hofmannsthal sagen dürfte: „Ganz vergessener
Völker Müdigkeiten kann ich nicht abtun von meinen Lidern“
— das vielbewußte „Ahnen“=Motiv der österreichischen Dich¬
tung: wir Atmenden sind immerzu in allen die da waren und
in allen die da kommen werden. Die Zeit ist nicht, wie Goethe
sagt, divitiae meae und ager meus; sie ist vielmehr, wie
mutatis mutandis auch bei gewissen Russen und bei vielen
Spaniern und bei den Indern, vanitas vanitatum vanitas!.
Auch hier freilich bleibt das Augustinische Paradox gegenwärtig:
Zeit ist entweder Zeitstrom, unsterbliches Kontinuum, oder Zeit¬
punkt, vergängliches Au — und man kann nicht das eine von
beiden bejahen ohne dadurch das andere zu verneinen. Ein Be¬
griff wie die Bergsonsche „durée réelle“ hält es durchaus mit
jenem zeugenden Strom und hat nicht einmal einen Seitenblick
für die Schauer der Flüchtigkeit; in Wiener Poesie aber be¬
deutet Zeit oft ausschließlich den unwiederbringlichen Augen¬
blick, in aller seiner Schattenhaftigkeit und Schwermut, ohne
Augenaufschlag zum Wandelhaft=Dauernden — hier also wird
der Zeitpunkt bejaht, der Zeitstrom verneint, etwa in jener
von Extrem zu Extrem oszillierenden Metaphysik der Ver¬
gänglichkeit, wie sie im ersten Akt des „Rosenkavaliers zu
Sprache und Musik geworden ist: „Die Zeit, die ist ein sonder¬
bares Ding. Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts. Aber
dann auf einmal, Da spürt man nichts als sie: Sie ist um uns
herum, sie ist auch in uns drinnen. In den Gesichtern rieselt
sie, im Spiegel da rieselt sie, In meinen Schläfen da fließt sie,
Und zwischen mir und dir da fließt sie wieder. Lautlos, wie
eine Sanduhr“ ... Hier überall sind die tieferen Gründe
der Ruhe, die ja auch zu den sprichwörtlichen Attributen des
Wieners gehört — ein Fluidum, das nicht nur ästhetische
Horizonte zieht, sondern auch sittliche Gebote gibt: Ein Grill¬
parzer bricht den Stab über alle entschlossene Tat; bei Hegel
oder Schiller hat vorweg der Handelnde recht (und dem Denker
erübrigt nur, das Wagnis zu rechtfertigen); für Grillparzer
aber (wie auch für den verwandten Schopenhauer) bleibt alles
kühne Vorwärts beinah als solches Frevel oder Torheit. Hegel
sieht in Napoleon den Weltgeist reiten; Schopenhauer hingegen
dünkt alles Kriegen und Siegen der Weltgeschichte nur sinn¬
loses Wüten von blut= und beutegierigem Pöbel; Grillparzer
nun hegt freilich kein solches Ressentiment, er blickt nicht ver¬
ächtlich aus einem Sdeenhimmel in ein theatrum stultitiae
herab, doch auch er liebt nicht den, der das Unmögliche begehrt,
sondern scheut allen fernhin treffenden Willen als Sünde und
Hybris und Pakt mit dem Teufel. (Darum sind Grillparzer

Alt=österreichs letzte Dichtung (1
und Schopenhauer die beiden großen, i#
zwei einzigen anti=historischen Geister
Gegner der Weltgeschichte, die von der G
lebt, und Diener der Geistesgeschichte, die
webt.) Natürlich entspricht das zum Teil
Katholizismus — nicht freilich auch dem
In dieser Hinsicht ist ja Grillparzer nich
Stifter, der doch den quietistisch=asketischen
„Alle Leidenschaft ist immer unsittlich“
ein Dogma der Keuschheit gefährdete, si
unkontrollierten Impetus in die Welt
aber ergibt sich hier — und das ist der
Zusammenhang — die Wahlverwandtscha
romanischer Kultur, insonderheit zu den fr.
und Asra der Modernität: zum Verlai##
„mourir en beauté“ zur melancholischen „
Benjamin Constant= und Alfred de Mu
zur Aeolsharfen=Poesie der Symbolistes u
züglich Verlaine ist den Wienern fast e
körperung der lautersten Kontemplation —
Stück Aas mit dem hellen Herzen des
des Farbenhörens und Tönetastens Rüch
geopfert; er hat in seinem „Art poétique“ d
Kunst auch kanonisiert: die Meisterschaft
schweigens, das „deviner peu à peu“, di
nicht Objekts, den Stil nicht der Worte
der Rhythmen und Akzente, kurzum jen
Literatur, mit unheimlichen Zugängen zu
lockt, zwingt und wirkt“ (Nietzsche)...
Impressionismus ein ewiger Altersstil: e
der Goethe zuerst im „West=östlichen
Zauberstab führt; ein Saitenspiel des sp
wie der greise Oedipus heimtastet nach
der er vordem so brüsk auf den Nackeng
Schüssel auch, in die der alte Rembra
reichstes Wissen um sich und die Ding
Impressionismus freilich, aller Alters
fühlt sich als „tempus inchoativum“: A
steigen in die Neurone, die „petites
kommnen sich von Stunde zu Stunde,
(oder Oskar Wilde) züchtet man den U
einen eindruckstrunkenen „culte du mo
der Satanik Barbey d'Aurevillys und
Stendhals, Bourgets „états d’ämes“ gege
réalité“, und Nachahmung erntet auch Jor
den Helden des Esseintes in seinem Noma
Fibel nicht nur des gallischen Impression
ätherischer Oele oder aus Batterien von Lik