VI, Allgemeine Besprechungen 1, 6, Herbert Cysarz, Seite 11

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Panphlet:
Offprints
Herbert Cysarz.
rchens, bis zur Stigmatisierung („Guar¬
ta“). Solches Geblüts zeichnet Rilke
leichzeitig vorwärts und rückwärts lebt,
üllt und das aller Ahnen aufsaugt —
thal sagen dürfte: „Ganz vergessener
n ich nicht abtun von meinen Lidern“
nen“=Motiv der österreichischen Dich¬
immerzu in allen die da waren und
werden. Die Zeit ist nicht, wie Goethe
ager meus; sie ist vielmehr, wie
bei gewissen Russen und bei vielen
dern, vanitas vanitatum vanitas!
hs Augustinische Paradox gegenwärtig:
n, unsterbliches Kontinuum, oder Zeit¬
und man kann nicht das eine von
urch das andere zu verneinen. Ein Be¬
„durée réelle“ hält es durchaus mit
ind hat nicht einmal einen Seitenblick
chtigkeit; in Wiener Poesie aber be¬
lich den unwiederbringlichen Augen¬
attenhaftigkeit und Schwermut, ohne
ndelhaft=Dauernden — hier also wird
Zeitstrom verneint, etwa in jener
oszillierenden Metaphysik der Ver¬
ersten Akt des „Rosenkavaliers zu
rden ist: „Die Zeit, die ist ein sonder¬
so hinlebt, ist sie rein gar nichts. Aber
rt man nichts als sie: Sie ist um uns
drinnen. In den Gesichtern rieselt
sie, In meinen Schläfen da fließt sie,
ir da fließt sie wieder. Lautlos, wie
überall sind die tieferen Gründe
den sprichwörtlichen Attributen des
Fluidum, das nicht nur ästhetische
auch sittliche Gebote gibt: Ein Grill¬
ber alle entschlossene Tat; bei Hegel
der Handelnde recht (und dem Denker
is zu rechtfertigen); für Grillparzer
erwandten Schopenhauer) bleibt alles
s solches Frevel oder Torheit. Hegel
eltgeist reiten; Schopenhauer hingegen
Siegen der Weltgeschichte nur sinn¬
nd beutegierigem Pöbel; Grillparzer
hes Ressentiment, er blickt nicht ver¬
himmel in ein theatrum stultitiae
licht den, der das Unmögliche begehrt,
n treffenden Willen als Sünde und
n Teufel. (Darum sind Grillparzer
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Alt=Österreichs letzte Dichtung (1890—1914). 39
und Schopenhauer die beiden großen. unter den Großen die
zwei einzigen anti=historischen Geister ihres Jahrhunderts:
Gegner der Weltgeschichte, die von der Gnade des Augenblicks
lebt, und Diener der Geistesgeschichte, die in zeitlosen Gebilden
webt.) Natürlich entspricht das zum Teil auch dem Ethos des
Katholizismus — nicht freilich auch dem katholischen Dogma:
In dieser Hinsicht ist ja Grillparzer nicht minder liberal als
Stifter, der doch den quietistisch=asketischen Spruch fällen kann:
„Alle Leidenschaft ist immer unsittlich“ (nicht etwa, weil sie
ein Dogma der Keuschheit gefährdete, sondern schon weil sie
unkontrollierten Impetus in die Welt setzt). Des Weiteren
aber ergibt sich hier — und das ist der um 1900 mächtigste
die Wahlverwandtschaft zu den Spätzeiten
Zusammenhang
romanischer Kultur, insonderheit zu den französischen Märtyrern
und Asra der Modernität: zum Verlaine= und Régnierschen
„mourir en beauté“ zur melancholischen „malaise inexprimable“.
Benjamin Constant= und Alfred de Mussetschen Angedenkens,
zur Aeolsharfen=Poesie der Symbolistes und ihrer Erben. Vor¬
züglich Verlaine ist den Wienern fast eine bohémehafte Ein¬
körperung der lautersten Kontemplation —er hat, ein kriechendes
Stück Aas mit dem hellen Herzen des Kinds, der Windstille
des Farbenhörens und Tönetastens Rückgrat und Rückenmark
geopfert; er hat in seinem „Art poétique die Wesensmale solcher
Kunst auch kanonisiert: die Meisterschaft des drei Viertel Ver¬
schweigens, das „deviner peu à peu“ die Wahl des Parfums
nicht Objekts, den Stil nicht der Worte und Bilder, sondern
der Rhythmen und Akzente, kurzum jene „Kammermusik der
Literatur, mit unheimlichen Zugängen zu allem was verführt,
lockt, zwingt und wirkt“ (Nietzsche). . . Und insgemein ist der
Impressionismus ein ewiger Altersstil: ein Teil der Geste, mit
der Goethe zuerst im West=östlichen Divan“ den müderen
Zauberstab führt; ein Saitenspiel des spätesten Beethoven, der
wie der greise Oedipus heimtastet nach der mütterlichen Erde,
der er vordem so brüsk auf den Nacken getreten war; die weite
Schüssel auch, in die der alte Rembrandt sein reifstes und
reichstes Wissen um sich und die Dinge legt. Der Wiener
Impressionismus freilich, aller Altersmerkmale unbeschadet,
fühlt sich als „tempus inchoativum“: Alle Säfte des Lebens
steigen in die Neurone, die „petites perceptions“ vervoll¬
kommnen sich von Stunde zu Stunde, wie Maurice Barrés
(oder Oskar Wilde) züchtet man den Uebermenschen oft durch
einen eindruckstrunkenen „culte du moi“. Bewunderung gilt
der Satanik Barbey d'Aurevillys und der Differenziertheit
Stendhals, Bourgets „états d’ämes“ gegenüber Zolas „coin de la
réalité“ und Nachahmung erntet auch Joris Huysmans, der etwa
den Helden des Esseintes in seinem Roman „A rebours“ (dieser
Fibel nicht nur des gallischen Impressionismus) aus Retorten
atherischer Oele oder aus Batterien von Likören, die zur Klaviatur