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box 36/6
1. Panphlets, offprint.
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Herbert Cysarz.
geordnet werden, eine Art Geruchs=Kaleidoskop oder Schnaps¬
Orgel bauen läßt, auf der er seine Impromptus für Mund= und
Nasenschleimhaut übt. Solche und ähnliche Pariser Techniken
werden bereits von Hermann Bahr, dem Impresario des Wiener
Impressionismus, an die Donau verpflanzt — praktisch im
Roman „Die gute Schule“ (1890), kritisch vorzüglich in den
Aufsätzen „Die Ueberwindung des Naturalismus (1891)..
Freilich, dem Wiener Treiben fehlt der viel vergötzte große
Wurf des Condottiere — die stärkste Ausnahme macht Georg
Trakl, geradezu der österreichische Rimbaud, wie eben nur
Rimbaud zugleich berserkerlicher Urwaldmensch und nervöser
Verfallsmensch, mit einem Hauch von Grünewald und einem
Flug von Gryphius, bald zärtlich hingeschmiegt an Wein¬
geländ und Glockenlaut, bald aber auch apokalyptisch auf¬
gebäumt voll jener wahrhaft Dürerischen „Melancholia“, wie
sie in den letzten drei Vorkriegsjahren gewitterschwül die deutsche
Lyrik durchbebt — Trakls Harfe birst früh und jäh nach den
Schlachten bei Lemberg (wie ja auch seine immer noch nächsten
Nachbarn, der 1912 ertrunkene Georg Heym und der 1914 ge¬
fallene Ernst Stadler, den schönen Tod der Gewalt sterben).
Die meisten anderen indes sind Hüter der Tranquillität! Noch
in der müdesten Pariser Dekadenz — das Wort natürlich
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nur als Lebensform nicht Krankheitsform verstanden
Dekadenz eines Seefahrer=Volks; ihr Boden ist gedüngt vom
Blut der Revolution und der Bartholomäusnacht; und ihre
Stadt bewahrt in unsterblichen Lettern den Giganten=Ductus
Napoleons. Indessen vielleicht nur im angedeuteten Wiener
Klima, der unheroisch=unpolemischen In=sich=Versunkenheit teils
des zytherischen Idylls teils des spanischen Zeremoniells, kann
Dichtung in solchem Maß Essenz und Extrakt alles Daseins
werden, das Henkaipan, fast der Ersatz des Lebens
nur
hier vermag der Impressionismus so tief in das Innere zu
dringen, über die Uebereinstimmung mit dem Pariser Kolorit
hinaus. Jede Vergleichung des Vergleichbaren in diesen beiden
Städten erweist, um wie viel unterirdischer das Wienerische ist
neben dem beispiellosen äußeren Reichtum des Pariser Welt¬
theaters: Das romanische Blut bewährt noch in der décadence
die radikalste Aktualität, es zeitigt Gestalt und Bewegung,
es formt die primären Male der Seelen und Dinge — das
Wiener Blut aber prägt vornehmlich die sekundären Eigen¬
schaften, mehr raunend und webend als leuchtend und knallend,
heimlich auf lange Sicht arbeitend, gleichsam nur latente
Energie — dies allerdings voll letzter Hingabe:
Man kost den Augenblick (Nietzsches „azurnen Augen¬
blick“ Verlaines „heure bleue“), man spricht „Verweile doch,
du bist so schön“ (so sprechen, Atemzug für Atemzug, alle
barocken Parks und Salons und Skulpturen), man läßt das
Flüchtigste der Liebe und Schönheit durch sachteste Finger
ge
schleck
Größte
und Wagr
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1. Panphlets, offprint.
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Herbert Cysarz.
geordnet werden, eine Art Geruchs=Kaleidoskop oder Schnaps¬
Orgel bauen läßt, auf der er seine Impromptus für Mund= und
Nasenschleimhaut übt. Solche und ähnliche Pariser Techniken
werden bereits von Hermann Bahr, dem Impresario des Wiener
Impressionismus, an die Donau verpflanzt — praktisch im
Roman „Die gute Schule“ (1890), kritisch vorzüglich in den
Aufsätzen „Die Ueberwindung des Naturalismus (1891)..
Freilich, dem Wiener Treiben fehlt der viel vergötzte große
Wurf des Condottiere — die stärkste Ausnahme macht Georg
Trakl, geradezu der österreichische Rimbaud, wie eben nur
Rimbaud zugleich berserkerlicher Urwaldmensch und nervöser
Verfallsmensch, mit einem Hauch von Grünewald und einem
Flug von Gryphius, bald zärtlich hingeschmiegt an Wein¬
geländ und Glockenlaut, bald aber auch apokalyptisch auf¬
gebäumt voll jener wahrhaft Dürerischen „Melancholia“, wie
sie in den letzten drei Vorkriegsjahren gewitterschwül die deutsche
Lyrik durchbebt — Trakls Harfe birst früh und jäh nach den
Schlachten bei Lemberg (wie ja auch seine immer noch nächsten
Nachbarn, der 1912 ertrunkene Georg Heym und der 1914 ge¬
fallene Ernst Stadler, den schönen Tod der Gewalt sterben).
Die meisten anderen indes sind Hüter der Tranquillität! Noch
in der müdesten Pariser Dekadenz — das Wort natürlich
— 1
nur als Lebensform nicht Krankheitsform verstanden
Dekadenz eines Seefahrer=Volks; ihr Boden ist gedüngt vom
Blut der Revolution und der Bartholomäusnacht; und ihre
Stadt bewahrt in unsterblichen Lettern den Giganten=Ductus
Napoleons. Indessen vielleicht nur im angedeuteten Wiener
Klima, der unheroisch=unpolemischen In=sich=Versunkenheit teils
des zytherischen Idylls teils des spanischen Zeremoniells, kann
Dichtung in solchem Maß Essenz und Extrakt alles Daseins
werden, das Henkaipan, fast der Ersatz des Lebens
nur
hier vermag der Impressionismus so tief in das Innere zu
dringen, über die Uebereinstimmung mit dem Pariser Kolorit
hinaus. Jede Vergleichung des Vergleichbaren in diesen beiden
Städten erweist, um wie viel unterirdischer das Wienerische ist
neben dem beispiellosen äußeren Reichtum des Pariser Welt¬
theaters: Das romanische Blut bewährt noch in der décadence
die radikalste Aktualität, es zeitigt Gestalt und Bewegung,
es formt die primären Male der Seelen und Dinge — das
Wiener Blut aber prägt vornehmlich die sekundären Eigen¬
schaften, mehr raunend und webend als leuchtend und knallend,
heimlich auf lange Sicht arbeitend, gleichsam nur latente
Energie — dies allerdings voll letzter Hingabe:
Man kost den Augenblick (Nietzsches „azurnen Augen¬
blick“ Verlaines „heure bleue“), man spricht „Verweile doch,
du bist so schön“ (so sprechen, Atemzug für Atemzug, alle
barocken Parks und Salons und Skulpturen), man läßt das
Flüchtigste der Liebe und Schönheit durch sachteste Finger
ge
schleck
Größte
und Wagr