VI, Allgemeine Besprechungen 1, 6, Herbert Cysarz, Seite 16


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Herbert Cysarz.
dieser Energie wirkt sich vorzüglich die zeitgeschichtliche Lage der
euroväischen Literaturen aus und einen dritten Mittelpunkt
bildet die Metaphysik des Scheins und des Spiels, die barocke
Synthetik und Antithetik von Leben und Tod, das Durchscheinen
des Jenseits durch das Diesseits — und diese Motivik erschließt
und verschließt das besonderste Rätsel und Wunder alt=öster¬
reichischer Seele... Zu allgemeinerer Erwägung aber drängt
an dieser Stelle noch die Frage, warum all solches Seelen¬
tum sich so wenig unmittelbar in der Sprachform als solcher
verleibt: Anders als viele Schweizer Poesie, die jede sinnliche
Gebärde oder geistige Bewegung unverdrängt in morgend¬
lichem Wortgut spiegelt, anders auch als manche nördliche,
die noch realistisch Geschautes zu flammendem Ausdruck empor¬
reckt wie etwa Hermann Stehr, strebt Oesterreichs edelste
Dichtung noch überschwenglichste Bilder in überschwangloseste
Sprache zu fassen — so sehen Grillparzer und viele Jüngere
in allen hohen und starken Worten nur Zeugnisse einer Kurz¬
oder Schwachsichtigkeit der Phantasie; Hofmannsthal wird noch
als eklektischer Artist und raffinierter Aesthet niemals zum
Goldschmied des Worts (gerade sein Vers ist häufig erstaun¬
lich kantig und spröd — entgegen dem der Parnassiens oder der
Virtuosen der europäischen Neuromantik), Schnitzler prägt oft
die sublimste Auance in saloppstes Salon=Volapük, und andere
von Rittner bis zu Nilke — verraten zuweilen denn doch
einen Mangel an deutschem Sprachverhängnis, einen seltsamen
Schwebezustand der Heimatlosigkeit und Schicksallosigkeit (viel¬
leicht ist eben darum der große Rilke ein oft so schwacher Ueber¬
setzer); insgemein wird das Wort vielfach geradezu neutrali¬
siert, gewissermaßen als ein Notbehelf, der sich vergessen machen
muß wie die poetische Disposition. Formale Potenz entfaltet
die Sprachkunst der Oesterreicher in breiterer Ueberlieferung
nur in der Prosa: einer — mit Nietzsche zu reden — „auf
Taubenfüßen“ schreitenden, freilich abgründig=redlichen, un¬
pathetisch=unsuggestiven, die Grenze zwischen ungebundener und
gebundener Rede aufs Strengste bewahrenden Prosa. In diesem
Sinn ist Stifter wohl der reinste deutsche Prosaiker neben
Goethe — und niemand hat zäher und zorniger wider alle Ver¬
mischung von Prosa und Poesie gestritten als Grillparzer
(konservativ wie keiner, außer wieder Schopenhauer, die pein¬
lichste Scheidung der Gattungen fordernd — wo alle literarischen
Revolutionen des Jahrhunderts, von der Romantik und Jung¬
deutschland bis zum Naturalismus und Nietzscheanismus,
zwischen dramatischer epischer lyrischer Form, zwischen poetischer
und Prosa=Diktion die verwegensten Kreuzungen suchen). Noch
Hofmannsthal ist repräsentativer Formen=Meister einerseits als
klassischer Librettist, andererseiis als der Bewahrer und Er¬
neuerer eines großartig ausgeglichenen, ebenso kritisch=dichten
wie harmonisch=sachten Prosa=Vortrags. Von dieser Tradition


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