VI, Allgemeine Besprechungen 1, 6, Herbert Cysarz, Seite 20

—.—
m
box 36/6
1. Parphlets offprints
48
Herbert Cysarz.
zweiflung und Großstadt=Ergebung: den „Tubutsch' Albert
Ehrensteins, mit seinem halb impressionistischen und halb ex¬
pressionistischen Blick in die Linzer Straße (den Wiener White¬
chapel road, endlos und pfeilgerad in Vorstadt=Elend und
=Unrat führend). Und Altenberg=Gesichte, Altenberg=Zeich¬
nungen sind auch bei Karl Kraus, inmitten aller Zeit=Kritik
und Impressionismus=Polemik.
Die österreichische Metaphysik des Bluts und ihre Formen¬
sprache aber sei nun noch an der Gestalt Rainer Maria Rilkes
abschließend heraufbeschworen! Nilke ist unser höchster Im¬
pressionist
und Ueberwinder des Impressionismus, Ueber¬
winder nicht Totengräber: Wie Stefan George aus neu¬
romantischem Symbolismus, der „Hymnen“ der „Pilgerfahrten“
des „Algabal;, sich — nicht durch Eliminierung der jugendlichen
Extreme, vielmehr durch Equilibrierung des Pols durch den
Gegenpol — zu neuklassischem Monumentalstil erhebt; wie selbst
ein Thomas Mann aus der „Psychologie des Verfalls“ seiner
„Buddenbrooks“, aus den weltschmerzlichen Zerrissenheiten der
„Tristan'=Novellen, noch des „Tonio Kröger“ in Goethes und
in Nietzsches Geist sich läutert zu neuidealistischem Lebens= und
Sachen=Sehen; oder wie Hofmannsthal aus dem Elektra¬
Zwielicht einer orientalisierten Antike — die Spaltung zur
Spannung straffend — emporsteigt zum antikisierten Orient der
„Frau ohne Schatten'=Novelle — in gleich kontrapunktischem
Rhythmus (bei aller Lage=Verschiedenheit der hier betretenen
Ebenen) bahnt Rilke den Weg aus aparten und faszinierenden
Reizen zu dennoch und gleichzeitig härteren Linien. In
Worpswede hat Nilke singen und sagen gelernt, vogel= und
windessprache=kund wie Jacobsen und schwebend in zeitlosen
Räumen wie Gide, einfältig und überfeinert zugleich wie
Verlaine. Sein ist das offene Ich und die offene Form und
der offene Russengott (nicht Georges geschlossene Griechen¬
gottheit)
sein ist das Hofmannsthalische Wissen um alles
Vorher und Nachher, die Existenz in allem Irgendwo und
Irgendwann, die Teilhabe an allen nahen und fernen Bezügen,
jungfräulich=sehnsuchtsbang und mütterlich=opferstark (gerade die
Urtatsachen des Frauenlebens hat Rilke seherisch gestaltet)
„ausgestreut in Stadt und Angst“; Tod ist in allem Leben,
tausend Stege schwanken aus der nackten Leibheit in die nie
verlorene Unendlichkeit, in jedem Schritt grüßen unsichtbar
rauschende Unterströme und ferne Seufzer und innere Ver¬
wandlungen; noch in den „Aufzeichnungen des Malte Laurids
Brigge" sind Novalissche Allegorien und Baudelairesche
Wunden= und Aases=Orgien voll grandioser Transparenz des
Metaphysischen im Physiologischen. Aber bereits der Herr und
Meister Rodin senkt auch einen anderen Sauerteig in den
Dichter: aus Hypersensibilität strebt Rilke auch zur Glocken¬
einfalt des „Stundenbuchs“ (der Ausdruck gewinnt zuweilen