VI, Allgemeine Besprechungen 1, 6, Oskar Walzel, Seite 4


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Panphlets offprints
Schnitzlers Hand um so deutlicher, weil er von Vervösen erzählt,
Nervöse auf die Bühne bringt. Und diese Nervösen sind gleich
ihrem Dichter Kinder Wiens.
Vielleicht konnte ein Dichter von Schnitzlers Art auf deutschem
Boden überhaupt nur in Wien erstehen, nur in Wien die Gegen¬
stände finden, an denen sich seine Kunst bewährte. Das ist ja der
Einwand, den von norddeutscher Seite Schnitzler vielfach zu ver¬
nehmen hatte: daß er dem Gefühl der meisten Deutschen nicht ent¬
spreche, daß er Krankheitserscheinungen der Seele vorbringe, für
die anderswo auf deutscher Erde kein Mitgefühl, noch weniger das
Bewußtsein der Gemeinsamkeit bestehe. Es wäre trotzdem immer
noch eine Leistung, als Wiener so tief der nächsten Umwelt ins
Herz geblickt zu haben. Allein die Nervösen, die in Schnitzlers
Dichtungen erscheinen, haben Verwandte auch in Deutschen ande¬
rer Landstriche. Es fragt sich nur, ob diese Verwandten Dichter
vorfanden, die wie Schnitzler imstande waren, mit feinfühliger
Hand die Seele des Nervösen zu fassen und zu enthüllen.
Ich wüßte nur wenige deutsche Dichter zu nennen, die eine
gleich leichte Hand haben. In den Erzählungen Graf Eduard
Keyserlings spüre ich etwas Aehnliches. Dänische Dichter sind
heute vielleicht die bestbekannten Vertreter einer Seelenkunst, die
auf große Gegensätze verzichtet und aus kleinen Tragisches er¬
stehen läßt. An der Oberfläche herrscht wenig Bewegung, aber
was in der Tiefe vorgeht und mehr angedeutet als gesagt wird,
entscheidet über Leben und Tod. Hermann Bahr und Schnitzler
lassen gleichmäßig ihre Menschen nur Anspielungen äußern auf
die Vorgänge, die ihr Schicksal bestimmten und bestimmen. Nur
die Töne, die mitschwingen, verraten die wahre Bedeutung der ge¬
sprochenen Worte. Klare Ausernandersetzungen, in denen Gegen¬
satz scharf auf Gegensatz teifft, sind mit Absicht gemieden. Die
Nerven dieser Menschen sind krank, weil starke Erregungen einst
nicht zur Entladung gekommen, sondern unterdrückt worden
waren. Und weil die Nerven krank sind, scheuen diese Menschen
vor kräftiger Entladung ihrer seelischen Erregungen nrück.
Etwas Müdes und Gedämpftes liegt auf solchen Dich¬
tungen. Die letzten Stücke Ibsens weisen jähere Entschlüsse. Und
doch kommt Schnitzler von Ibsen her. Hauptmanns „Einsame
Menschen“ hatten schon gezeigt, daß die Tragik von „Rosmers¬
holm“ auch aus viel geringeren und scheinbar schwächeren Gegen¬
sätzen erstehen kann. Schnitzler geht auf dem gleichen Wege weiter
und verzichtet noch auf den Widerstreit, der zwischen altmodisch
gläubigen Eltern und einem freidenkenden Sohn besteht, arch
wenn ein starkes Band des Familiengefühls sie verknüpft. In
Schnitzlers „Zwischenspiel“ stehen Mann und Frau genau auf
demselben Boden sittlicher Anschauung; aber gerade weil sie ganz
frei zu sein glauben, so frei, wie Nora es kaum ahnt und Jo¬
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