1. PanphletsOfforints
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Fr. Thieberger, Grundzüge des jüngstverflossenen Literaturabschnittes. 167
von Holz eine neue naturalistische Lyrik heraufzuführen; gerade im Jahre 1895
gab er seinen historisch bedeutsamen „Frühling“ heraus. Aber man fühlte
gleich damals das manieriert Extreme seiner Prosaverse und sah in ihnen das
Ende einer Richtung und nicht den Anfang. Das Jahr darauf ließ zum ersten¬
mal den Verzweiflungsruf Arno Holz' vernehmen, der in bittere Not geraten
war und den Mut zu einem freien dichterischen Schaffen gebrochen fühlte.
Das ist seit je ein Merkmal für den Ausgang einer Epoche, wenn über ihre
Pioniere das Geschlecht hinwegschreitet. Aber auch die großen Erfolge des
Jahres 1896 — Hauptmanns „Versunkene Glocke“ in Berlin, Schnitzlers
„Liebelei“ in Wien — bringen uns den Gedanken nahe, daß der Höhepunkt
der neuen Kunst, die in einem engeren oder weiteren Sinne mit dem Naturalis¬
mus zusammenhing, bereits überschritten war. Denn das deutsche Volk fühlte
sich im festen Besitz dieser neuen, im Kampfe geklärten Kunst und mußte nicht
erst durch überraschende Erschütterungen in ein Neuland geführt werden. Es
begann nach den Jahren des Vorwärtsstürmens die Zeit des ruhigen Sammelns
und mußevollen Betrachtens. Schon 1896 konnte Lilieneron eine Auswahl
aus seinen früheren Gedichtbänden veranstalten und Altenbergs Randbemerkungen
zu den selbstverständlichen Seltsamkeiten des Lebens fanden im gleichen Jahre
eine willige Zuhörerschaft. Nun war auch die Zeit gekommen, der errungenen
Kunst ein ständiges Sammelbecken zu bereiten. Die einstige „Freie Bühne“.
die den Kampfesruf auf der Stirne geführt hatte, konnte sich nach 1894
ruhiger und selbstsicher „Neue deutsche Rundschau“ nennen; denn sie war jetzt
mehr als der programmatische Ausdruck einer kleinen Schar, die nach außen
Einfluß gewinnen wollte. Höchst lebenskräftig setzte in einem ähnlichen Sinne
1895 die Münchner „Jugend“ ein, ein Spiegel der reichen Kräfte, die durch
die Entwicklung der ersten Neunzigerjahre (auch auf dem Gebiete der
Malerei) Bedeutung erlangt hatten. Der satirisch=humoristische Zug, den jeder
neue, geistig reife Besitz hervorspielen läßt, durfte sich seit 1896 im „Simplizissimus“
ausleben. In diesem Zusammenhang muß auch der 1895 begründeten Zeit¬
schrift „Pan“ gedacht werden, wenngleich sie der Poesie des kostbaren Wortes
besonders zuneigte, die bis dahin von einer ästhetisch interessierten Minorität
getragen immer weitere Kreise ziehen sollte.
Mit gutem Rechte haben wir sonach um die Mitte der Neunzigerjahre
einen neuen Abschnitt der literarischen Entwicklung angesetzt, der höchst be¬
zeichnenderweise nicht mit einer neuen geistigen Bewegung anhebt, sondern
nur aus dem „Überreif=werden“ einer älteren Epoche sich ergibt. Schon das
allein deutet auf eine unselbständige, von keinem einheitlichen Geist erfaßte
Zeit, der man schwer mit einer einzelnen Formel gerecht werden kann. Denn
es handelt sich hier nicht um ein abwägendes Werturteil über die Zeit, sondern
um die Erkenntnis ihrer zentralen Quellen. Das Bedeutendste, das in den
letzten zwanzig Jahren geistig geleistet wurde, liegt eben auf einem anderen
Gebiete als dem der Literatur. Immerhin möchte ich — heute mehr als je —
das Vorherrschen des kritischen Urteils in Dingen der künstlerischen Technik
als den Grundcharakter der Zeit bezeichnen.
Es liegt im Selbsterhaltungstrieb eines jeden Geschlechtes begründet, daß
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Fr. Thieberger, Grundzüge des jüngstverflossenen Literaturabschnittes. 167
von Holz eine neue naturalistische Lyrik heraufzuführen; gerade im Jahre 1895
gab er seinen historisch bedeutsamen „Frühling“ heraus. Aber man fühlte
gleich damals das manieriert Extreme seiner Prosaverse und sah in ihnen das
Ende einer Richtung und nicht den Anfang. Das Jahr darauf ließ zum ersten¬
mal den Verzweiflungsruf Arno Holz' vernehmen, der in bittere Not geraten
war und den Mut zu einem freien dichterischen Schaffen gebrochen fühlte.
Das ist seit je ein Merkmal für den Ausgang einer Epoche, wenn über ihre
Pioniere das Geschlecht hinwegschreitet. Aber auch die großen Erfolge des
Jahres 1896 — Hauptmanns „Versunkene Glocke“ in Berlin, Schnitzlers
„Liebelei“ in Wien — bringen uns den Gedanken nahe, daß der Höhepunkt
der neuen Kunst, die in einem engeren oder weiteren Sinne mit dem Naturalis¬
mus zusammenhing, bereits überschritten war. Denn das deutsche Volk fühlte
sich im festen Besitz dieser neuen, im Kampfe geklärten Kunst und mußte nicht
erst durch überraschende Erschütterungen in ein Neuland geführt werden. Es
begann nach den Jahren des Vorwärtsstürmens die Zeit des ruhigen Sammelns
und mußevollen Betrachtens. Schon 1896 konnte Lilieneron eine Auswahl
aus seinen früheren Gedichtbänden veranstalten und Altenbergs Randbemerkungen
zu den selbstverständlichen Seltsamkeiten des Lebens fanden im gleichen Jahre
eine willige Zuhörerschaft. Nun war auch die Zeit gekommen, der errungenen
Kunst ein ständiges Sammelbecken zu bereiten. Die einstige „Freie Bühne“.
die den Kampfesruf auf der Stirne geführt hatte, konnte sich nach 1894
ruhiger und selbstsicher „Neue deutsche Rundschau“ nennen; denn sie war jetzt
mehr als der programmatische Ausdruck einer kleinen Schar, die nach außen
Einfluß gewinnen wollte. Höchst lebenskräftig setzte in einem ähnlichen Sinne
1895 die Münchner „Jugend“ ein, ein Spiegel der reichen Kräfte, die durch
die Entwicklung der ersten Neunzigerjahre (auch auf dem Gebiete der
Malerei) Bedeutung erlangt hatten. Der satirisch=humoristische Zug, den jeder
neue, geistig reife Besitz hervorspielen läßt, durfte sich seit 1896 im „Simplizissimus“
ausleben. In diesem Zusammenhang muß auch der 1895 begründeten Zeit¬
schrift „Pan“ gedacht werden, wenngleich sie der Poesie des kostbaren Wortes
besonders zuneigte, die bis dahin von einer ästhetisch interessierten Minorität
getragen immer weitere Kreise ziehen sollte.
Mit gutem Rechte haben wir sonach um die Mitte der Neunzigerjahre
einen neuen Abschnitt der literarischen Entwicklung angesetzt, der höchst be¬
zeichnenderweise nicht mit einer neuen geistigen Bewegung anhebt, sondern
nur aus dem „Überreif=werden“ einer älteren Epoche sich ergibt. Schon das
allein deutet auf eine unselbständige, von keinem einheitlichen Geist erfaßte
Zeit, der man schwer mit einer einzelnen Formel gerecht werden kann. Denn
es handelt sich hier nicht um ein abwägendes Werturteil über die Zeit, sondern
um die Erkenntnis ihrer zentralen Quellen. Das Bedeutendste, das in den
letzten zwanzig Jahren geistig geleistet wurde, liegt eben auf einem anderen
Gebiete als dem der Literatur. Immerhin möchte ich — heute mehr als je —
das Vorherrschen des kritischen Urteils in Dingen der künstlerischen Technik
als den Grundcharakter der Zeit bezeichnen.
Es liegt im Selbsterhaltungstrieb eines jeden Geschlechtes begründet, daß