VI, Allgemeine Besprechungen 1, 7, Friedrich Thieberger, Seite 4


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1. Panphlets, offprints
168 Fr. Thieberger, Grundzüge des jüngstverflossenen Literaturabschnittes.
es mit den vorausgehenden Epochen i.: einen geistigen Kampf eintreten muß,
um sich in seinem eigenen Fühlen und Denken Raum zu schaffen oder sich
einer lastenden Übermacht zu erwehren. Am leichtesten ist dieser Kampf nach
der Seite der Form hin zu führen und er ist der einzig mögliche, wenn der
menschlich bedeutende Gehalt vorher geschaffener Kunstwerke noch auf das
folgende Geschlecht lebendig wirkt. Kritische Fragen der äußeren Form aber
sind Fragen der künstlerischen Technik. Daher kommt es, daß nach großen
Kunstepochen ein Rückgang innerlich bedeutender Werke zu verzeichnen ist, aber
geradezu ein Überbieten in Werken, die technisch den früheren zumindest gleich¬
wertig sind. Auf die Zeit nach 1895 drückte nun eine so mächtige dichterische
Vergangenheit, wie auf kein zweites Geschlecht des Jahrhunderts. Denn unter
dem aufwühlenden Einfluß Nietzsches und Ibsens hatte man die älteren und
jüngeren Werke der Literatur nach ihren gedanklichen Problemen abgesucht.
So entdeckte man erst in den Neunzigerjahren so recht Kleist und Hebbel
und Grillparzer. Freilich blieb der Maßstab für die Höhe der Kunst das
kritische Ergebnis des gedanklichen Problems. Vor einigen Jahren noch schrieb
Harden in der Zukunft, es sei unbegreiflich, wie man jemals Grillparzer neben
Hebbel haben stellen können. Das Überschätzen des größeren Denkers gegen¬
über dem größeren Künstler möchte ich symbolisch für den jüngstverflossenen
Literaturabschnitt ansehen. Der großen Übermacht war eben nicht anders als
verstandesmäßig beizukommen. An den alten Schätzen freute man sich nun
nicht mehr mit der herrlichen Einseitigkeit des naturalistischen Jahrzehnts,
denn man hatte den ruhig kritischen Blick für das ganze verflossene Jahrhundert
wieder frei. Auch Mörike, auch Keller feierten ihre Auferstehung, aber man
genoß nicht naiv die bescheidene Naivität des einen und freute sich nicht an
der einsiedlerischen Lebensfreude des andern, sondern sann darüber nach, mit
welchen Mitteln der eine die Naivität in Sprache und Stimmung „heraus¬
brachte“, der andere den schlichten Stil für seine schnörkelhaft beschauliche
Darstellung gefunden hatte. Stil, das proteushafte Lieblingswort so vieler
Geschlechter, bedeutete in den letzten zwunzig Jahren soviel wie: bewußte
Technik. Daher kommt es z. B., daß Keller stofflich gar nicht auf die Folgezeit
gewirkt hat, aber mächtig in stilistischer Richtung, d. h. nach der Seite der
Beschreibungstechnik hin.
Zu solchen Bedingungen, die sich aus der bloßen Entwicklung der Literatur
ergaben, treten aber in demselben Zeitraum noch andere verstärkend hinzu.
Seit Hettner und Scherer mit den verfeinerten Instrumenten der neueren
Psychologie die komplizierten Werke und Zeiten deutscher Kunst durchforscht
haben, wurde auch die lebendige Literatur von ihren Ergebnissen beinflußt.
Schon in den Sechziger= und Siebzigerjahren war die Rückwirkung der
Literaturgeschichte auf die Literatur von der größten Bedeutung. Es entstand
eine Poesie, die sich in jedem Moment historisch gesichert fühlte, die nicht
Ausdruck ursprünglichen Lebens, sondern literarischen Fühlens war. Ein der¬
artiger Einfluß ist für eine künstlerisch unselbständige Zeit bis zu gewissem
Grade von Vorteil, denn durch die theoretische Ermittlung unzweifelhaft not¬
wendiger, ästhetischer Forderungen wird ein fester Rückhalt geschaffen, der ein

erf
mus.
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