VI, Allgemeine Besprechungen 1, 7, Friedrich Thieberger, Seite 5

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1. Panphlets offnrints
Fr. Thieberger, Grundzüge des jüngstverflossenen Literaturabschnittes. 169
Versinken in völliger Kunstlosigkeit unmöglich macht. Nur das elementar her¬
vorbrechende Kunstgefühl kennt keine Verpflichtungen einer früheren Zeit gegen¬
über: so war es in den Jahren des Naturalismus. Nach seinem Verfalle aber
grübelte man mit literarhistorischer Schulung einem neuen theoretischen Ideal
nach, es kam die Zeit der Neuromantik, des Neuidealismus, des Neuklassizis¬
mus. Und der Aufschwung der modernen Asthetik verlockte nur noch mehr zu
einer wissenschaftlichen Zergliederung literarischer Werke. Jedem Zeitalter wollte
man objektiv gerecht werden und jeder Kunstform. Dieser bewußte Kunstverstand
brachte die Dichter der letzten zwanzig Jahre — und so viele der älteren Epoche
um die Sorglosigkeit des Schaffens, die Genießer um die Sorglosigkeit
des Genusses. Hinter jeder Vorstellung, jedem Gedanken, jedem Rhythmus,
jeder Wortwahl lauerten die Assoziationen, die zu der allzuklug durchforschten
Vergangenheit verstimmende Beziehungen herzustellen drohten; denn mit Recht
wehrt sich unser Gefühl gegen nichts so sehr, wie gegen den „Anklang“. Es
ist daher nicht verwunderlich, wenn in den letzten Jahren eine Unmenge junger
Dichter auftauchten, deren Kunst von theoretisch geschäftigen Freunden mit
großer Inszenierungskunst als die „kommende“ gepriesen wurde. Die Namen
dieser Neuesten und Jüngsten sind bald verschwunden, wenn sie nicht aus
menschlicher Ergriffenheit heraus schufen, sondern nur aus Spekulation auf
den theoretischen Satz hin: Wie könnte ich dichten, daß ich jene fatalen
Assoziationen vermeide? Wie könnte ich etwas in „unerhörter Form“ sagen?
Der Nationalismus im Dichtungshandwerk mußte zu einer bedeutenden
Höhe literarischer Kritik führen, der die dichterischen Leistungen nicht nach¬
zukommen vermochten. Die Kritik selbst, im achtzehnten Jahrhundert nur
Weiserin und Sichterin, seit Herder und den Romantikern ein fragmentarischer
Beitrag zur Geschichte der betreffenden Epoche, wurde jetzt zu einer selbständigen
Kunst erhoben. Ich erinnere nur an die Vorrede zu Kerrs Kritikensammlung.
Nicht auf den objektiven Urteilsinhalt allein kommt es jetzt an, sondern vor¬
nehmlich auf den subjektiven Ausbau der Urteilsform. Der Urteilsinhalt soll
zum künstlerischen Erlebnis werden. Auf die Berechtigung einer Kritikkunst
E
sei hier nicht näher eingegangen. Ich habe nur das Gefühl, daß die führenden
Kritiker, die Harden, Kerr uff. im Grunde genommen Künstler sind, deren
handwerkliche Begabung die schöpferische (denn beide müssen in jedem Künstler
vereinigt sein) so sehr verkümmern ließ, daß sie mit Notwendigkeit auf das
Gebiet einer verstandesmäßigen Tätigkeit des Geistes gedrängt wurden und
hier ein Surrogat für ihren künstlerischen Schaffensdrang suchten. Kritik,
als künstlerisch vollwertige Betätigung hatte aber namentlich für die Jugend,
die sich in einer literarischen Interessiertheit mit ästhetischer Linienführung
gefiel, etwas ungemein Verlockendes. Dem Stil der kritizistischen Vorbilder
war mit technischem Kunstverstand beizukommen und die Zeitungen boten
einen günstigen Nährboden für die kritischen Regungen der Siebzehn= und
Achtzehnjährigen. Freilich wurden dabei die Gefahren der jugendlichen Selbst¬
gefälligkeit im Urteil nicht vermindert. Kulturpersönlichkeiten, die Generationen
erzogen haben, wie Shakespeare, Goethe, Kant wurden sorglos als Wertbegriffe
zum Maße jüngster Erscheinungen genommen. Nicht die Scheu vor der Kompli¬