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1. Pamphlets, offorints
Fr. Thieberger, Grundzüge des jüngstverflossenen Literaturabschnittes. 171
dieser Hinsicht war der Zeit ein mächtiges Vorbild in Nietzsche — nicht dem
Philosophen, sondern dem Gedankenlyriker in Prosa erstanden.
So mußte denn die Zeit der letzten zwanzig Jahre ein günstiger Nähr¬
boden für die Bestrebungen jener Minorität sein, die nach 1892 gegen den
Naturalismus, im weitesten Sinne des Wortes, sich wandte und die ich als
die Poeten des großen Wortes bezeichnete, die George und Hofmannsthal.
Über sie hinaus ging in der gleichen Richtung Rilke. Auch bei diesen handelt
es sich vornehmlich um eine eigenartige „Wortkultur“ um die Wahl feierlich
getragener, einer ätherischen Herkunft sich bewußter Worte, über denen ein
mystisch=symbolischer Dämmerglanz schwebt. Den es steht durchaus nicht im
Widerspruch zu dem, was wir vom verstandesmäßigen, kritischen Zeitalter
sagten, daß die eminente Sprachelastizi. leicht die assoziative Brücke zu
Wortbildern schlug, in die ein Sinn nachträglich hineingedeutet wurde. Purzel¬
bäume der Sprachakrobatik, wie sie die überwuchernden Nachahmer Hof¬
mannsthals und Rilkes mit „bedeutender Gebärde“ ausführten, suchten gern
hinter dem Schleier ahnungsvollen Klanges sich zu verbergen. Denn diese
jüngste Art der Symbolik und Mystik war durchaus nicht der Ausdruck einer
innerlich verhaltenen Empfindungsglut — wie ganz anders wirken die „Er¬
lebnisse" Hofmannsthals und die Visionen in Hauptmanns „Hannele“! sondern
nur eine verstandesgekühlte Freude am geheimnisvollen Tone der Worte. Als
Motto für die formale und inhaltliche Art dieser Poesie lassen sich die be¬
kannten Verse Hofmannsthals anführen:
„Und dennoch sagt der viel, der „Abend' sagt.
Ein Wort, daraus Tiefsinn und Trauer rinnt,
Wie schwerer Honig aus den hohlen Waben.“
Tiessinnig traurig war diese ganze Art des Dichtens, auch wo sie zu
jauchzen schien, wie z. B. bei Mombert. Heute erscheint uns die ungesunde
Grundlage der Poesie des kostbaren Wortes vielleicht deutlicher als jemals.
Krankhafte Geister einer überreizten Kultur des Auslandes waren ihre ersten
Apostel: Der französierende Belgier Maeterlinck, der Italiener d'Annunzio,
lange vorher die „Vers=Libristen“ Frankreichs, etwas später der Engländer
Wilde. Wir wollen das Eigenartige und Interessante, ja selbst das Wertvolle
solcher Persönlichkeiten nicht verkennen; daß sie nicht die lebensvoll=gesunde
Seite, die allgemein erstrebenswerte der Poesie, als Ausdruckes des Volks¬
geistes darstellen, bleibt uns hoffentlich dauernde Gewißheit. Der Unterschied
dieser Poesie vom Naturalismus liegt auf der Hand. Diese war die demo¬
kratische, jene die luxuriöse, die eine die Poesie des machtvoll sich selbst
suchenden Volkes, die andere die Poesie der bewußten Kultur der Satten und
Übersättigten, kraß ausgedrückt, die eine die Poesie der äußern und innern
Not, die andere die Poesie des Goldes und Besitzes. Das Pathos des Natu¬
ralismus war die Anklage und der Stolz der Selbstbefreiung, das Pathos der
Poesie des großen Wortes, eine aufgelöste Resignation und das Auskosten
von Klangwerten, die ein in der Ferne verrauschendes Leben geschaffen hat.
Wenn Hauptmann seine Verse vorliest, so meißelt er sie mit gesunder Bäuer¬
lichkeit und schlichter Inbrunst vor dem Hörer heraus; wenn Rilke liest, dann
1. Pamphlets, offorints
Fr. Thieberger, Grundzüge des jüngstverflossenen Literaturabschnittes. 171
dieser Hinsicht war der Zeit ein mächtiges Vorbild in Nietzsche — nicht dem
Philosophen, sondern dem Gedankenlyriker in Prosa erstanden.
So mußte denn die Zeit der letzten zwanzig Jahre ein günstiger Nähr¬
boden für die Bestrebungen jener Minorität sein, die nach 1892 gegen den
Naturalismus, im weitesten Sinne des Wortes, sich wandte und die ich als
die Poeten des großen Wortes bezeichnete, die George und Hofmannsthal.
Über sie hinaus ging in der gleichen Richtung Rilke. Auch bei diesen handelt
es sich vornehmlich um eine eigenartige „Wortkultur“ um die Wahl feierlich
getragener, einer ätherischen Herkunft sich bewußter Worte, über denen ein
mystisch=symbolischer Dämmerglanz schwebt. Den es steht durchaus nicht im
Widerspruch zu dem, was wir vom verstandesmäßigen, kritischen Zeitalter
sagten, daß die eminente Sprachelastizi. leicht die assoziative Brücke zu
Wortbildern schlug, in die ein Sinn nachträglich hineingedeutet wurde. Purzel¬
bäume der Sprachakrobatik, wie sie die überwuchernden Nachahmer Hof¬
mannsthals und Rilkes mit „bedeutender Gebärde“ ausführten, suchten gern
hinter dem Schleier ahnungsvollen Klanges sich zu verbergen. Denn diese
jüngste Art der Symbolik und Mystik war durchaus nicht der Ausdruck einer
innerlich verhaltenen Empfindungsglut — wie ganz anders wirken die „Er¬
lebnisse" Hofmannsthals und die Visionen in Hauptmanns „Hannele“! sondern
nur eine verstandesgekühlte Freude am geheimnisvollen Tone der Worte. Als
Motto für die formale und inhaltliche Art dieser Poesie lassen sich die be¬
kannten Verse Hofmannsthals anführen:
„Und dennoch sagt der viel, der „Abend' sagt.
Ein Wort, daraus Tiefsinn und Trauer rinnt,
Wie schwerer Honig aus den hohlen Waben.“
Tiessinnig traurig war diese ganze Art des Dichtens, auch wo sie zu
jauchzen schien, wie z. B. bei Mombert. Heute erscheint uns die ungesunde
Grundlage der Poesie des kostbaren Wortes vielleicht deutlicher als jemals.
Krankhafte Geister einer überreizten Kultur des Auslandes waren ihre ersten
Apostel: Der französierende Belgier Maeterlinck, der Italiener d'Annunzio,
lange vorher die „Vers=Libristen“ Frankreichs, etwas später der Engländer
Wilde. Wir wollen das Eigenartige und Interessante, ja selbst das Wertvolle
solcher Persönlichkeiten nicht verkennen; daß sie nicht die lebensvoll=gesunde
Seite, die allgemein erstrebenswerte der Poesie, als Ausdruckes des Volks¬
geistes darstellen, bleibt uns hoffentlich dauernde Gewißheit. Der Unterschied
dieser Poesie vom Naturalismus liegt auf der Hand. Diese war die demo¬
kratische, jene die luxuriöse, die eine die Poesie des machtvoll sich selbst
suchenden Volkes, die andere die Poesie der bewußten Kultur der Satten und
Übersättigten, kraß ausgedrückt, die eine die Poesie der äußern und innern
Not, die andere die Poesie des Goldes und Besitzes. Das Pathos des Natu¬
ralismus war die Anklage und der Stolz der Selbstbefreiung, das Pathos der
Poesie des großen Wortes, eine aufgelöste Resignation und das Auskosten
von Klangwerten, die ein in der Ferne verrauschendes Leben geschaffen hat.
Wenn Hauptmann seine Verse vorliest, so meißelt er sie mit gesunder Bäuer¬
lichkeit und schlichter Inbrunst vor dem Hörer heraus; wenn Rilke liest, dann