VI, Allgemeine Besprechungen 1, 7, Ottokar Stauf von der March Decadence II, Seite 4

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Panphlets offorints
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Decadence.
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perversen Naturanlage.
ich meine damit: die brutale Bekämpfung, wie solche Freund Kraus hin
et er nicht viel. Vom
und wieder in der „Gesellschaft“ betreibt; denn die Décadence hat Existenz¬
denten muß man ta¬
berechtigung im litterarischen Leben der Gegenwart. Es ist die Poesie des
beim geringsten
absterbenden Bourgoisgeschlechtes, das von der Julirevolution ab in der
pfänglichkeit
Litteratur hoffähig wurde. (Spielhagen, Freytag.) Es sind nichts mehr, denn
in und
die letzten Zuckungen einer dem Untergange geweihten, verweichlichten und ver¬
em allen
flachten (Marlitt, Bürstenbinder) Generation. Weder diese, noch auch ihre
Dichter sind reif für die neue Welt, und das eben ist ihre tragische Schuld. Einer
e, ein
Dekadent
von den begabtesten, weil aufrichtigsten, Dekadenten (Arthur Schnitzler), auf
den ich im Verlaufe noch zurückkommen werde, gesteht das selber ein. Die
gemäß
es nicht einbekennen, fühlen es wenigstens, aber die süße Gewohnheit, das
wollüstige Milieu vernichtet in ihnen den letzten Funken Willenskraft. Sie
ähmt
sind bankrott, noch ehe sie recht spekuliert haben. Ihre Agonie ist zugleich
as
die Agonie der Kaste, der sie entsprossen. Eben darum gebührt ihnen, wie
on,
keiner andern Richtung, der Titel: Dichter der Gegenwart.
Ein anderes ist es, gegen diese Nervenpoeten mit satirischen Waffen
ins Feld zu ziehen. Was dem Ernste mit aller Mühe nicht gelingt, fällt
oftmals dem Humor ohne weiteres in den Schoß. Als echte Salonmenschen
fürchten die Dekadenten jedenfalls nichts mehr, als die Blamage, und Bla¬
mage, unsterbliche Blamage kann ihnen ein guter Satiriker in Hülle und
Fülle bieten, zumal jeder Dekadent, dank seiner Neigung zur Pose, zur
Hälfte aus Achillesfersen besteht. Ein junger Wiener, Anton Lindner, hat
diesen Weg bereits mit großem Erfolg eingeschlagen*) und es steht zu er¬
er
warten, daß seine Bestrebungen nachhaltige Wirkung erzielen werden; denn
die Décadence, ob auch existenzberechtigt, vergiftet den litterarischen Nachwuchs,
vom Publikum ganz abgesehen. Freilich ausrotten wird sie auch der Sa¬
tiriker Lindner nicht; die Décadence steht und fällt eben nur mit dem tiers¬
état —— es handelt sich lediglich um ein ausgiebiges Gegengewicht, ein
prophylaktisches Mittel gegen die hektisch=neuralgische Poesie der Herma¬
phroditen, in deren litterarischem Organismus anstatt Blut eine Mischung
von Morphium und odeur de femmes fließt.
Die Décadence ist, wie sich schon von selber versteht, kein spezifisch
deutsches Gewächs, wenn sie auch bei uns ihre größten Triumphe feiert.
Das Hirn des Deutschen ist denn doch etwas zu schwerfällig, um derlei
pikante Nippes zum Gebrauch fin-de-siecle-angekränkelter Menschenkinder
auszutüfteln. Das muß schon dem litterarischen Obersthaushofmeister jen¬
seits des Elsaß überlassen werden, der besorgt es auch in gewohnter redlicher
jung
Weise — ob zu Nutz und Frommen seiner gehorsamen Zöglinge, ist freilich
*) „Magazin für Litteratur.“