VI, Allgemeine Besprechungen 1, 7, Ottokar Stauf von der March Decadence II, Seite 5

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PannhletsOffarints
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Stauf von der March.
eine andere Frage. Was vom Ausland importiert wird — mögen es nun
Hosenstoffe oder Litteraturwerke sein, ganz egal! — ist, wie bekannt, aus
der Maßen trefflich und wird mit Inbrunst gekauft und getragen, beziehent¬
lich: gelesen und nachgebetet, wahrscheinlich um den unglückseligen National¬
stolz zu sühnen, den wir uns nie ganz abgewöhnen können, und der uns
von jeher soviel Knüppel in den Weg geworfen hat. In Norddeutschland
fand das Senfkorn der Décadence allerdings keinen besonders günstigen
Boden. Die Luft ist zu scharf, zu brüsk für die zarten Mimosen, deren
Wachstum einzig putride Erde und Glashaustemperatur verbürgt. Wilhelm
Arent zeigt zwar sehr oft ein dekadentes Gesicht, aber seine erstaunliche
Mimenequilibristik führt den Beobachter ebenso oft irre. Sudermann ist
einmal „Naturalist für Minderbemittelte“ geheißen worden, mit demselben
Recht kann man Arent einen Dekadenten für Minderbemittelte nennen. Es
fehlt ihm der Schliff, die Kunst oder Künstlichkeit der waschechten Sensiti¬
visten — seine Décadence steht zu der eines Dörmann in fast eben vem¬
selben Verhältnisse, als die Satirbilder des Stuck zu der „Toteninsel des
Böcklin. — A. v. Sommerfeld, der zweite und letzte Norddeutsche, der
dem Dekadenten Konzessionen macht, besitzt wohl einen hinlänglichen Fond
zum Fin-de-siccle-isten, aber die ab und zu hervorbrechende Kraft seines
Ausdruckes, sowie die vielfach an Heine mahnende Neigung zur Pointe,
von seiner Sympathie zum Sozialismus ganz zu schweigen, läßt die Nerven¬
thätigkeit nicht aufkommen. Er gehört nur zur Hälfte den tiers-Stat¬
Poeten an.*)
Die eigentliche Heimat der Ganglien=Korybanten ist Süddeutschland,
genauer das Land der möglichen Unmöglichkeiten, vulgo Österreich geheißen.
Der von Rassenhaß und Klassenwut zerfressene Boden und das seit Schiller
so berühmte und berüchtigte Phäakenwiilieu des thönernen Polyglotten sind
ausgezeichnete Faktoren, um den Samen eines Baudelaire, Verlaine u. a.
zum Keimen zu bringen und den resultierenden Embryo in ein stattliches
Belladonnengestrüpp zu verwandeln. Neben dem „goldenen“ Prag, wo die
czechischen Dekadenten (Machar, Krapil u. s. f.) ihre Residenz aufgeschlagen
haben, ist das Capua der Geister, unser liebes Wien an der schönen, blauen
Donau, das Emporium der hysterischen Richtung. Günstiger könnte auch
keine Stadt der Welt sein. Die oben erwähnten Faktoren treten nirgends.
verstärkter auf, als in der Metropole, wo alle Venen des geistigen Lebens
zusammenmünden. Aber trotz alledem hätte — bei dem im Grunde doch
gesunden Vaudeville=Charakter der Wiener — die Décadence keinen so auf¬
*) Vgl. meine Besprechung von „Wetterleuchten. Mod. Ged. v. A. v. Sommerfeld“.
in der „Litteratur=Korrespondenz“.