VI, Allgemeine Besprechungen 1, 7, Ottokar Stauf von der March Decadence II, Seite 7

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1. PanphletsOfforints
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Stauf von der March. Déendence.
Wiener Gesellschaft sehr geschätzt — das mag vielleicht die übrigens jedem
Menschen angeborene Neigung zum Schminktöpfchen verstärkt haben. Trotz¬
dem ist mir der halbe Dörmann mit all seinen künstlerischen Schrullen
sympathischer, als seine Nachbeter und Nachtreter in toto, die von ihm nur
die sexuelle Raserei und die Pose gelernt haben, und diese beiden Errungen¬
schaften bis zur Karikatur auszerren.
Eine ganz andere Physiognomie als der eben Besprochene weist Loris
auf. Rokoko ins Dekadente übersetzt mit klassischen Vordüren. Milde Re¬
signation ist das Hauptelement seiner Gedichte.
Jus Märchenhafte greift der Dekadent Richard Specht. Die kind¬
liche Naivität, die ihm abgeht, ersetzt er durch einen leisen Anhauch von
Symbolismus. („Ein Sündentraum.“) Specht kann ohne weiteres der Ro¬
mantiker der Décadence genannt werden.
Der blasierteste unter den Dekadenten in Felix Salten. Bei ihm
erscheint selbst das Krankhafte unnatürlich, die Stimmungen ausgeklügelt,
das Kolorit minutiös berechnet — mit einem Wort: der konsequenteste
Verfallspoet, den es giebt.
Die übrigen Dekadenten einer Besprechung zu unterziehen, verlohnt
sich nicht der Mühe. Die Pose, die schon bei Salten Orgien feiert, tritt
bis ins Unendliche vergrößert auf, und die Erotik, die schon bei Dörmann
über die Stränge haut, wird zur widerlichen Erotomanie. Nachtreter sind
eben immer Breittreter.
Faßt man den Charakter der Décadence zusammen, so kann es nicht
zweifelhaft sein, daß diese Richtung unserer Litteratur zu keinem großen
Nutzen gereicht. Sie bringt, wie bereits bemerkt, die jungen Talente auf
Irrwege und stumpft das Publikum ab. Indem sie den oft mühsam aus¬
spintisierten Stimmungen nachpirscht, unterdrückt sie die Individualität des
Dichters, durch ihr prickelndes Air entnervt sie die Sinne des Lesers. Wohl
sind wir alle mehr oder minder krank, entnervt, degeneriert, mit Gebresten
behaftet — aber sollen wir darum noch kranker, noch nervöser werden?
die Infektionsstoffe einer solchen Poesie ohne Protest in uns aufnehmen,
das süße Gift ruhig im Organismus wirken lassen? Was soll eine Dich¬
tung, die uns, anstatt zu kräftigen, entkräftet? Der Naturalismus sowohl,
als der Idealismus besitzen einen eminent=erzieherischen Wert; der erstere
deckt die Gebrechen der Zeit induktiv, auf naturwissenschaftlichem Wege auf,
der letztere — selbstverständlich ist darunter nicht der Pseudo=Idealismus
diverser alter Jungfern und bezopfter Professoren gemeint — deduktiv,
vom, ich möchte sagen: historischen Standpunkte aus. Die Décadence hin¬
gegen hat lediglich Wert für den Pathologen, oder zum höchsten für den
Kulturforscher. Was soll uns solch eine Dichtung? was soll uns, den