VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1903–1906, Seite 16

aber der Doktor sitzt um diese Zeit im Kupee des Zuges, der
ihn schon weit entführt hat..
Nicht minder beweist uns „Ein Abschied“ den echten Dichter,
der manches sieht, was anderen verborgen bleibt.
Der Geliebte steht an der Leiche der Frau, die sich ihm ge¬
schenkt hatte. Ihr Mann kniet am Bette und schluchzt. Da ist's
dem andern, als spielte ein eigentümliches Lächeln um die Lippen
der Toten, das ihm sagt: „Ich habe Dich geliebt und nun stehst
Du da, wie ein Fremder und verleugnest mich. Sag' es ihm doch,
daß ich die Deine wäre, daß es Dein Recht war, vor diesem Bette
zu knieen und meine Hände zu küssen. Sag' es ihm!“ Aber er
weilt beschämt davon, „denn ihm war, als dürfte er nicht trauern
wie die anderen, weil er sie verleugnet“.
Und dieselbe eindringliche Kraft des Ausdruckes mit seelenauf¬
wühlender Gewalt finden wir in allen anderen Erzählungen und
Novellen Schnitzlers, wir vermissen nirgends den feinsten Beob¬
achter psychologischer Konflikte, den eine Kritik geradezu den „Ent¬
decker des menschlichen Herzens“ nennt. Auch in seinem größten
epischen Werke, im Roman „Frau Bertha Garlau“ beweist sich
die poetische Kraft, die in Schnitzler liegt. Und noch
eines. Er ringt nach neuen Formen. Gleich den Sängern
des Mittelalters, die ihre Weisen sich selbst schufen, greift
Schnitzler nicht gerne nach alten, abgebrauchten Formen.
Er teilt seinen Roman nicht in Kapitel mit Ueberschriften, er läßt
ihn leicht aus der Feder fließen, ohne allen Zwang im Bau,
ohne eine literarische Architektonik, die den Eindruck machen könnte,
dahinter sei das Eisengerippe, das die Fassade halte. Und dabei fühlen
wir uns überall so zu Hause. Die Karlskirche, das Konservatorium,
die Paulanerkirche, der Ring, die Elisabethbrücke, ja der Bau der
— das alles gibt Schauplätze der Handlung.
Wienflußregulierung
Ists eigentlich eine? Ists nicht wieder mehr Fühlen, mehr Emp¬
finden? Ein lyrischer Roman, so paradox es klingen mag. Diese
Sehnsucht der Witwe nach dem Jugendgeliebten, der nun ein be¬
rühmter Virtuose ist, wie rührend ist sie in ihrem Erwachen, in
ihrer Entwickelung, in ihrer Erfüllung, in ihrer grausamen Ent¬
täuschung gezeichnet. Und wie originell weiß der Dichter das zu
geben. Sie hat ihm von ihrem Landneste aus, wo sie wohnt, zu
einem Orden gratuliert, den er bekommen, und wirklich, wie sie's
geträumt, gleich Antwort erhalten. Und nun will sie ihm gleich
wieder schreiben. „Mein lieber Emil! Es ist sehr liebenswürdig
von Dir, mir so bald zu antworten. Ich war ganz glücklich —
sie strich „ganz glücklich“ wieder aus und setzte dafür „sehr erfreut“,
als ich Deine lieben Zeilen erhielt. Wie vieles hat sich verändert, seit wir
uns nicht gesehen haben! Du bist seitdem ein berühmter Virtuose ge¬
worden, was für mich niemals einem Zweifel unterlag“
hielt inne und strich den ganzen Satz wieder aus. „Auch ich teile
den Wunsch, Dich bald wiederzusehen“ — nein, das war ja ein
Unsinn! Also „auch mir wäre es riesig angenehm, wenn ich Dich
wieder einmal sprechen könnte“ ... Ist's nicht, als ob der Dichter
in jede Falte dieses Frauenherzens hineinleuchtete? Die Detail¬
malerei, wie sie nun zum ersten Rendezvous in die Stadt herein¬
fährt, ihre Träume im Kupee, das einsame Gefühl im Hotel¬
zimmer, die peinliche Wahl ihrer Toilette am Morgen, wo sie ihn
nun nach 10 Jahren wiedersehen soll, jede geheimste Regung ihres
dürstenden Herzens, das alles ist mit einer natürlichen Leichtigkeit
hingeworfen, die den Leser mitreißen muß, selbst dort, wo biese
Leichtigkeit flüchtig zu werden scheint. Schnitzler ist keine Be¬
das eigene Opus peinlich nachrevidiert, zehn¬
amtenseele,
mal umarbeitet und mit dem ewigen Feilen und Verbessern nicht
zu Ende kommt. Er malt in kräftigen, frischen Zügen und ist
seines Zieles sicher, er weiß, daß er nicht für jene schreibt, die ihm
irgend eine kleine Monotie oder einen etwas holperigen Satz als
Todsünde anrechnen. Er beweist an hundert anderen Stellen,
was er kann. Er will nicht an Worten gemessen sein, er will
verstanden sein in seinem Inhalt, in seiner Tendenz. So auch
hier. Frau Berta findet den Geliebten, sie verbringt mit ihm eine
selige Nacht. Aber als sie ihn öfter sehen will, weiß er auszu¬
weichen. Er schreibt ihr: „Richte Dir's doch so ein, mein Kind,
daß Du alle 4 bis 6 Wochen einen Tag und eine Nacht nach
Wien kommst.“ Nun fällt die ganze Wucht der Enttäuschung auf
die Arme. Nun hatte sie ihm geschenkt, was sie ihm als Mädchen
verweigert, und er sah in ihr einen Zeitvertreib, einen Lücken¬
büßer, wenn er nichts anderes fand . . . Und wie schön klingt nun
das Ganze aus. Frau Rupius, ihre Freundin, liegt im
Sterben, sie hat hinter dem Rücken des siechen, lahmen
Mannes ein Verhältnis gehabt und die Furcht vor dem
trieb
in ihr zu regen begann,
neuen Leben, das sich
denkt
sie in den Tod. Da steht nun Frau Berta und
mit Schaudern an sich selbst, das erstemal seit jener Nacht, „und
sie ahnte das ungeheure Unrecht in der Welt, daß die Sehnsucht
nach Wonne ebenso in die Frau gelegt war, als in den Manng
und es bei den Frauen Sünde wird und Sühne fordert, wenn
die Sehnsucht nach Wonne nicht zugleich Sehnsucht nach dem
Kinde ist —
Ljubovie=Beg, der Türke.
Skizze von Gopcevic.
Nach dem Drientalischen.
Sie saßen im Erdgeschoß, in der Küche, die gleichzeitig als
Beratungsraum dient: Rade, der „Starjeschina“ (d. h. Aelteste
des Dorfes), dessen Gattin Ruma und Dragoje, der Eltern
einziger Sohn.
Nachbarn traten ein und begannen eine Unterhaltung.
Plötzlich tritt ein Fremdling über die Schwelle. Er trägt
montenegrinisches Kostüm und ist mit Ausnahme des Hausherrn
allen andern unbekannt. Rade stellt ihn seinen Freunden als
Datajko, den Offizier, vor. Er erregt sofort allgemeinste Aufmerk¬
samkeit und das Gespräch nimmt lebhafte Wendung.
Und als sich schließlich die Gäste entfernen, bleibt Datojka
allein noch zurück.
„Was treibt Dich hierher?“ fragt vorsichtig Rade.
„Der Dienst und die Pflicht des Vaterlandes,“ antwortet¬
lächelnd der Offizier.
„Erkläre Dich, Datajko.“
„Du hast offenbar schon von der Reise des Großherrn ge¬
hört? Er hatte mit unserm Fürsten eine Zusammenkunft, und ich
kann Dir aufs bestimmteste versichern, daß der große Souverän
dem kleinen sehr gewogen ist.“
„Gut — aber
„Es ist Dir bekannt, daß seit fünszehn Jahren unser Hos¬
podar keinen anderen Wunsch kennt, als unsere geknechteten
Brüder in Mazedonien zu befreien. Der Zeitpunkt zur Aus¬
führung seiner Pläne ist da. Das ist der Grund, weshalb ein
Dutzend Emissare entsandt wurden, zu welchen auch ich gehöre.
Wir haben den Auftrag, Euch zum Aufstand zu rufen. Ich komme
zu Dir, da ich Deinen Patriotismus kenne und überzeugt bin, daß
Du Deine Nachbarn vorbereiten wirst ...“
Wenige Tage nach dieser Unterredung finden wir Datajko
in einem einzeln stehenden Hause unweit Nevesinje. Haus¬
herr war hier ein gewisser Mascha, der mit seiner Gattin und
einer bildschönen 14jährigen Tochter ein kleines Höschen bewirt¬
schaftete.
Mascha hatte eben seinen Freund Datajko von seiner elenden
Existenz in Kenntnis gesetzt und ihm erzähit, daß er nur mit
Zittern der Ankunft des Beg entgegensehe, da er heuer nicht in
der Lage sei, die Steuern zu bezahlen.
Und während sie noch so sprachen, vernahmen sie das Ge¬
trappel heransprengender Reiter.
Beide Männer eilten zum Fenster; Mascha trat erbleichend
zurück; „Er ist es — der Beg!“
Neugierig betrachtete Datajko den Beg, der polternd in das
Haus trat und sein aus zehn Personen bestehendes Gefolge mit
sich schleppte.
Was ist's, ungläubiger Hund,“ fuhr er den ihm demütig sich
nahenden Mascha an; „kannst Du Deine Steuern zahlen?“
„Edler Herr, verzeihe Deinem Sklaven,“ versetzte Mascha
unterwürfig, „aber das Jahr war schlecht, wir haben wenig ge¬
erntet und es ist uns beim besten Willen nicht möglich zu ent¬
richten, was unsere Pflicht ist. Habe dieses Jahr noch Nachsicht.“
„Elender Dschau'r, Du lügst — gewiß hast Du das Geld
vergraben und stellst Dich arm, um mein Mitleid zu erwecken.“
„Verzeih', Herr, wenn ich um Gnade flehe — bedenke, daß
Du ungerecht handeln würdest.
„Was erfrechst Du Dich? Ich bin Dein Herr. Der Rajah
wurde von Gott den Türken verliehen, damit er ihm diene.“
Das war die gelböhnriche Rebeweise der Begs. Datajto mischte
sich in das Gespräch, in dem er für Mascha eintrat.
Darüber ergrimmte Ljubovic=Beg, und er rief drohend dem
Montenegriner entgegen: „Na, Walach, hier schlägt keine Glocke
dieses Land ist türkisch.“ Und nunmehr machte der Beg es sich
im Hause recht bequem.
Alles, was Mascha an Vieh besaß — es war eben nicht viel
mußte geschlachtet werden, die ungebetenen Gäste zu bewirten.
Bisher hatte Mascha seine Familie fern gehalten, da er
fürchtete, sie könnte die Begierden des Beg erwecken. Aber ein un¬
glücklicher Zufall wollte es, daß sich der Beg plötzlich erinnerte, er
habe im vergangenen Jahre ein Kind hier gesehen. Er fragte
sofort, wo das Mädchen geblieben sei.
Zitternd antwortete der Vater, das Kind sei abwesend.
„So?“ versetzte Ljubovic ruhig, „so will ich warten, bis es
heimkehrt.“
„Herr, ich habe sie einem meiner Freunde geschickt.“
„Sucht mir das ganze Haus durch, vielleicht findet Ihr sie
irgendwo versieckt,“ befahl der Beg, und sofort wurde seinem Be¬
fehle Folge geleistet.
Kurze Zeit darnach schon kehrten die Zaptiehs mit dem ent¬
setzten, verzweifelt die Hände ringenden Mädchen zurück.
Ueberrascht rief der Beg aus: „Ei seht doch, welch' eine
Schönheit!“
Der Vater, der wußte, welches Schicksal seiner Tochter bevor¬
stand, warf sich dem Türken zu Füßen und flehte ihn mit herz¬
zerreißeuden Worten an, das Kind zu schonen.
et