VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1903–1906, Seite 29

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2. Cuttings
tastete. Dannjnäherte er seine Lippen dem Munde
Carlos, der zuerst nicht wußte, wie ihm geschah
und küßte ihn.
„Seid ihr verrückt?“ fragte der
Gendarm. „Vorwärts, vorwärts!“ „Ich habe keine
Lust zu braten!“
Geronimo hob die Gitarre
vom Boden auf, ohne auch nur ein Wort zu sprechen.
Carlo atmete tief auf, und er legte die Hand wieder
auf den Arm des Blinden. Und er lächelte mit
einem sonderbaren Ausdruck des Glücks vor sich
hin. „Vorwärts!“ schrie der Gendarm, „wollt ihr
endlich!“ — Und er gab Carlo eines zwischen die
Rippen. Und Carlo, mit festem Druck den Arm
des Blinden leitend, gieng wieder vorwärts. Er
schlug einen viel rascheren Schritt ein als früher.
Das Lächeln wollte von seinem Antlitz nicht ver¬
schwinden. Ihm war, als könnte ihm jetzt nichts
Schlimmes mehr geschehen, weder vor Gericht,
noch sonst irgendwo auf der Welt. Er hatte seinen
Bruder wieder. Nein, er hatte ihn zum erstenmale.
Von den restlichen zwei Novellen dieses preis¬
werten Bandes möchte ich noch „Andreas Tho¬
meiers letzten Brief“ hervorheben, eines Mannes,
der, da seine Frau sich an einem Neger im Prater
„versehen“ hat, uns dennoch überzeugen will, daß
seine Frau an dem Lästermunde der Menschen un¬
schuldig sei. Und man ahnt das Ende. Um das
Gerücht völlig zum Schweigen zu bringen, wird er
hingehen und sich erschießen. Schon diese kueze
Tragikomödie des kleinen Privatbeamten erhebt sich
zum Schlusse in das Heldenhafte und Wunderbare
empor. — Wer wagt es noch, auf den Dichter des
„Reigen“ nach solcher „Rehabilitierung“ nur einen

Stein zu werfen? — Es ist mir unmöglich, auch
die übrigen erschienenen 19 Bände dieser billigsten
„Bibliothek moderner deutscher Antoren“ derart zu
charakterisieren, wenngleich ich wenigstens die wirk¬
lich feinhumoristische „Kunstreise nach Hümpeldorf“.
von Otto Ernst, dem bekannten Theaterdichter, unb
des Münchners O. J. Bierbaum Novelle „Das
höllische Automobil“ als derbhumoristische Probe
hervorheben muß und Davids „Wunderliche Hei¬
lige“ später ausführlich würdigen will. Andere
werden die anderen Bände preisen, zu deren Lek¬
türe mir aber gegenwärtig die nötige Zeit fehlt,
da ich nur Erinnerungsbilder auffrische.

Die
Liste der markantesten Wiener Dichter wäre aber
entschieden unvollständig, wenn man nicht wenig¬
stens die in dieser Sammlung gleichfalls vertretenen
Musternovellen des so heißumstrittenen Wiener
Künstlers Hugo von Hofmannsthal, „Das
Märchen der 672. Nacht“ betitelt, kurz er¬
wähnen würde. Daß dieser Dichter, der als Dra¬
matiker und Lyriker Formvollendetes leistet, sich nur
an ein auserlesenes Publikum wendet, braucht
nicht erst hervorgehoben zu werden, denn er ist und
bleibt immer ein moderner Kulturpoet, in dessen
und Schnitzlers Fußstapfen kürzlich der Wiener
Richard Beer=Hofmann mit seinem erfolgreichen
Schauspiel „Graf von Charolais“ und seiner
Erzählung „Der Tod Georgs“ getreten ist.
Robert Reinhard.
Aborstehende=Eindringung des Rter
gierungsentwurfes.
Wie verlautet, wurde in der Audienz des¬
Ministerpräsidenten Baron Gautsch am 7.
den Wahlresormvorlagen vom Kaiser die Vor¬
sanktion erteilt. Die Einbringung der Wahlre¬
formvorlagen ist für Mitte der nächsten Woche
in Aussicht genommen.
Das Frauenwahlrecht.
Eine Abordnung sämtlicher Frauenvereine
Oesterreichs sprach im Abgeordnetenhause beim
Ministerpräsidenten von Gautsch vor und
stellte an ihn die Bitte, sich für das Wahlrecht
der Frauen einzusetzen. Der Ministerpräsident
erklärte jedoch, daß dies unmöglich sei. Er werde
jedoch den Frauen in anderer Beziehung gern
entgegenkommen.
Ungarn.
In Besprechung der Publikation des Ak¬
tenmaterials seitens des Koalitionsausschusses
schreibt der „Pester Lloyd“: Man kann es be¬
greifen, ja unter Umständen auch billigen, wenn
der Ausschuß sagt, wir verharren auf unseren
Forderungen und geben kein Jota davon frei,
komme, was kommen mag. Aber das als Kon¬
zession für die Bedenken und Ueberzeugungen
der Krone eine Formel hingestellt wird, durch¬
welche der König auf einem Umwege wieder