VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1903–1906, Seite 30

2. Guttings

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Telephon 12801.
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„OBSERVER“
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(Quellenangabe ohne Gewähr.)
Ausschnitt aus:
eie Prosse, Wien
vomNoue
B
Sprache.
Manchmal sehne ich mich nach einem dramatischen
Ischter — wenn möglich nach einem heimatlichen, der mi“
uns lebt, auf der Scholle wandelt, die uns trägt, die Luft
einsaugt, die uns umfächelt, und die Düfte atmei, die
unsere Wälder verhauchen. Ein solcher Dichter könnte
wieder einmal wecken, was in uns schlummert; er könnte
hell, laut und verwegen aussprechen, was wir nur zu
stammeln vermögen, er könnte die Sprache hegen unt
pflegen, die unser Volkstum noch immer für die Arbei
des. Dichters bereit hält. Was wir dunkel im Gefühl um¬
schlossen halten, müßte er an den lichten Tag bringen;
er müßte unser Herz befreien. Man späht nach diesem
Dichter, und die Wiener Literaturgeschichte hält für ihn
einige weiße, unbeschriebene Blätter frei....
Berlin verschlingt unsere Hoffnungen. Wenn
Berlin das Drama eines Wieners mit dem üblichen
Lärm in Szene gesetzt wird, glauben wir jedesmal, den
ersehnten Dichter gefunden zu haben. Die Berliner machen
uns ja öfters die Freude, in wirksam= instrumentierten
Rezensionen von dem großen Wiener Dichter zu sprechen.
Die Wiener recken die Hälse. Wenn ein Wiener Dichter
nur auch ein wienerischer Dichter wäre! Eben jetzt
wurden in Berlin die dort gut geölten Pforten der Un¬
sterblichkeit wieder vor Hugo v. Hofmannsthal aufgetan:
„Oedipus und die Sphynx.“ Ein geschätzter Kollege, der
auf einer hohen Warte steht, hat das Spektakulum vom
Beginne bis zu dem großen Opernfinale in diesen
Blättern ausführlich beschrieben. Zir Wiener — das Burg¬
idrater pflegt uns Zeit zu lassen — dürfen indessen in dem
Buche blättern. Da treien die dramatischen Elemente
zurück, und das Wort, die Sorache des Wiener Dichters,
kommt ins Vordertressen.... Ich suche nicht etwa, wie
wir eine weimarische Iphigenie besitzen, einen wienerischen
Oedipus und habe nie erwartet, daß sich die Sphynx
Hugo v. Hofmannsthals vom Kahlenberg hinabstürzen
werde. Ich suche a#er in dem Werke die Heimat der
Sprache. Denn die Sprache ist nicht das Kleid des
Dichters, das sich griechisch oder vorgriechisch oder
Kenetianisch drapieren läßt; sie ist nicht bloß ein Instru¬
fment, das, hart oder weich, wuchtig oder leicht, je nach
dem Materiale gewählt wird, das man zu bearbeiten
wünscht. Die Sprache ist nicht bloß Stab und Stütze bei ##
der Wanderung durch nahe oder entlegene, wirtliche oder“
unwirtliche Landstriche; sie ist nicht ein Schirm im
dichterischen Ungewitter, den man, wenn's wieder heiter
wird, bekanntlich auch irgendwo stehen lassen kann. Die
Sprache ist selbst das Dichtende; dasjenige, was die Ge¬
danken zu sinnlich faßbaren Formen verdichtet; sie ist
der Wurzelsaft, der je nach der Art des Bodens, aus
dem er ausschießt, die Bildung organischer Triebe bis in
ihre feinsten Spitzen und Ausläufer bestimmt. Dieser Saft
kann nicht von Literaturen bezogen werden. Wiener Erd¬
sast ist die Sprache eines Raimund, Grillvarzer, Anzen¬
gruber. Auch die natürliche, schmiegsame, leicht zum Dialog
sich fügende Sprache Schnitzlers quilst aus dem Wiener
Boden. Die Sprache des Hugo v. Hofmannsthal, das
zeigt auch sein jüngstes, stärkstes Werk, ist heimatlos. Sie
hat kein Blut. Weil Blut ihre unerfüllte Sehnsucht ist,
redet Hugo v. Hofmannsthal immerwährend vom Blut,
in jeder Zeile vom Blut. Als ob Blut seine gespenstische
Sprache erlösen sollte. So sangt er sich an Goethe fest,
um eine Heimat zu gewinnen; denn wie das Gespenster¬
schiff mit blutroten Segeln treibt seine Sprache durch die
Welt. Er könnte mit Viktor
in