VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1903–1906, Seite 37

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warum ein Dramenstoff, der auf 3 oder 5 Atte hindrangt, in
4 Akten behandelt werden muß, und warum man ihn als
„Spiel“ bearbeitet. Sie hantiert — wo sie nicht überhaupt
gleichgültig bleibt — in stiller Heiterkeit mit den ewigen
Maßen weiter und bleibt inmodern, ohne dem Tage er¬
kennbaren Einfluß. Denn wo gelärmt wird, da redet sie
nicht mit. Dennoch denke ich gewiß nicht an die deutschen
Spießbürger mit den sehr geringen geistigen Interessen,
denen die „Familienblätter“ das gern genommene Futter
liefern. Die deutsche Familie in ihrer unverkümmerten=Gesund¬
heit nährt ein reges geis######
o lebt
lau
sie so wenig in des Spieße

rungen,
wie in den parfümierten der Sal####d dee ggaretten¬
duftigen der Cafés. Dem Dichter aber olelbt die Wahl, für:
sie, indem er sich selber gibt, oder für jene anderen, indem
er sich selbst aufgibt, zu schaffen. Wählt er die stillere Ge¬
meinde, da macht er freilich seinen Weg nicht schnell, denn
die Reklame ebnet ihn ihm nicht. Vielleicht dringt sein Werk
neben denen der in dieser Gemeinde geschätzten Großen gar
nicht durch, oder sein Name geht fruh unter den großen
Stürmen der Zeit verloren, um — vielleicht spät einmal
wieder ausgegraben zu werden. Klüger sind die Anderen.
Sie ehren nur das Heute, und da sie doch nichts umsonst
getan haben wollen, muß ihr Geschrei, mit dem sie das ge¬
legte Ei ankündigen, groß sein. Sonst ist ihre Gabe verfault,
ehe man sie gefunden hat. Daß nach dem modernen Brauch
der Arbeitsteilung die einen das Ei legen und die andern den
Spektakel machen, läßt zuweilen den auf den Schild Erhobenen
als Märtyrer erscheinen. Muß er sich doch um seiner Gesell¬
schaft willen und weil er „modern“ heißt, Vorurteile gefallen
lassen. Es ist auch kein unkluger Gedanke, durch Anerkennung
wahrhaft Bedeutender, wie etwa Raabe's oder der wunder¬
baren Selma Lagerlof sich das Vertrauen derer zu gewinnen,
die nicht alles lesen können und sie nebenher auch an den
Wert des Herrn Schnitzler glauben zu machen. Nur könnte
so einer ja auch Herrn Schnitzler unglücklicherweise gerade ge¬
lesen haben. Armer Raabe! Arme Prophetin unendlicher
Frauengüte! Was täte es denn sonst viel, wenn die
schönumschneiderte Modedame, deren Inhalt im Alltags¬
kleide Hohn und Spott, oder auch nicht einmal das
finden würde, ihr Rudel Hanswurste hinter sich dreinzöge,
keine gute deutsche Frau wird die Gefeierte um ihre Ge
schaft beneiden. Sie weiß, daß sie, wie unbeachtet
auch mit aller ihrer Segenskraft fühlen mag, doch
viel glücklicher daran ist. Und so weiß es die Kun
über der literarischen Mode. Aber wenn man die
in sich fühlt, wie diese behandelt zu werden, das
Trotz allem nun steckt etwas Ewiges auch in
Das Wesen der Mode ist ein Sichversteifen auf ein
sache, auf eine Aeußerlichkeit. Dem folgt die Uebe
mit Sicherheit da, wo Unfähigkeit oder doch Unreife
Mode bemächtigen. Uebertreibungen und das H
kehren des Unnötigen zeichnen immer
das Werk
aus, das sich nicht von innen heraus naturnotwendig
nach ihm innewohnenden Gesetzen bildet, zeigen sich da,
wo nicht vornehmlich die Seele den Leib, sondern de
Leib die Seele macht. Unwesentliches schießt ins Kraut, wenn
von außen Absicht, Tendenz, Mode in entscheidender Weise mit¬
formen dürfen oder gar als die eigentlichen Erzeuger sie
r
des Kopfes und der Hand des Dichters bedienen. Manredet
plötzlich von Naturalismus, Symbolismus, Impressioni
Aestheticismus und Neuromantik. Von alledem kann am
echten Kunstwerk etwas haften. Das was es zum Kunst¬
werk macht, das Wesentliche und Wertbestimmende an ihm
freilich ist etwas ganz anderes.
Es ist wohl denkbar, das einmal das Gestalten des
Wesentlichen statt des Unwesentlichen, des Schönen statt der
Auswüchse Mode würde. Nur würde der Umstand, daß es
Mode ist, dann ein Beweis dafür sein, daß sein Ewigkeits¬
gehalt nicht erkannt würde, und daß es wieder verdrängt
werden müßte durch das, was unschöner und oberflächlicher
ist, als wäre dies ihm völlig gleichwertig.
Vorläufig brauchen wir meiner Ansicht nach, noch
nicht zu bedauern, daß was heute Mode ist, es morgen
nicht mehr sein wird. Wenigstens, wenn ich den bei
Wertheim von H. H. Ewers herausgegebenen „Führer
durch die moderne Literatur“ für orientiert halten
will. Wir erfahren da, daß Jakob Wassermann „einer von
den wenigen modernen Dichtern ist, bei denen Verstand
und Gefühl harmonisch wirksam sind“, Arthur Schnitzler für
„einen modernen Dichter ersten Ranges“ anzusehen ist, daß
Scheerbart „unser allerfeinster Humorist“ Baar „eine der
liebenswürdigsten Erscheinungen unserer Literatur“, die „einzige
in deutscher Sprache schreibende Frau der Modernen aber, die eine
starke Empfindung für alles Psychologische hatte“ — Juliane
Déry ist. Ferner wird uns mitgeteilt: „Bei Freußen wälzt sich
die Handlung breit in ungezählten Kapiteln daher, um der
Prophetenbegeisterung der Braven und Bescheidenen Nahrung
und Glaubwürdigkeit (?) zu schaffen.“ Sohnrey ist „ver¬
wässerter Auerbach“.
eligich=Gar