VI, Allgemeine Besprechungen 2, Ausschnitte 1903–1906, Seite 43

box 37/3
2. Cuttings
813
Ben-Ami: Beim ersten Lichtlein.
814
wir nicht willig gehen wollten, uns in Ketten dahin Dunkelheit zu versenken. Ich übergab mein Geld
zu schleifen.
der Mutter zum Aufbewahren.
„Na, und Du, Kleiner,“ sagte Reb Saul, als
„Morgen, so Gott will, kaufe ich Holz dafür,
er mich bei der Schürze der Mutter bemerkte.
um die Sabbatbrote dabei zu backen. Nicht wahr,
Wie geht’s Dir? Man sagt, Du lernst sehr gut.
mein Kind?“
Der Lehrer lobt Dich. Aber auch ein Wildfang
„Gut, gut.“
bist Du, ein richtiger Gassenjunge. Die Kälber
Ich betete das „Schema“ und schlummerte auf
und Ziegen in der ganzen Stadt haben keine Ruhe
dem Schosse meiner Mutter ein.
vor Dir ... Na, schon gut, schon gut, mein Kind,
Und ich träumte, dass ich ins Cheder ging.
wenn Du nur fleissig bist. Willst Du mir nicht
In der einen Hand hielt ich eine leuchtende Papier¬
den Schiur von dieser Woche aufsagen?
laterne, in der anderen mein Abendessen, ein Stück
Ich liess mich nicht lange bitten, den Schiur
Schwarzbrot mit einer entzweigeschnittenen und mit
kannte ich auswendig
Salz bestreuten Zwiebel. Die Nacht war dunkel.
„Hachaufer bor birschuss hajochid,“ fing ich
ringsum flackerten an den Fenstern der entfernten
an, jeden Satz betonend und dann übersetzend.
Häuser vereinzelte Lichter auf. Ich schleppte mit
„Wenn einer einen Graben gräbt auf seinem eigenen
Mühe meine geschwollenen und erstarrten Füsse
Grund und Boden.“ und so ging es weiter in
nach über die hartgefrorenen Erdschollen. Der
dem üblichen Singsang bis an das Ende der Mischna.
Frost machte mich steif, dass ich kein Glied be¬
Alle hielten den Atem an, als vernähmen sie
wegen konnte. Unter den Nägeln fühlte ich etwas
eine Offenbarung. Die Frauen konnten die Aus¬
wie Nadelstiche, bald wie den Druck einer Zange.
drücke der Bewunderung nicht zurückhalten und
Ich hauchte mit allen Kräften auf meine Finger,
seufzten jedesmal, meine Mutter weinte vor Wonne.
um sie zu erwärmen. Aber da war schon das
„Ein Prachtjunge, ein goldiges Kind!“ Die
Haus des Müllers Wakola und der Misthaufen, auf
Männer spendeten mir reichlich Beifall, kniffen mir
dem mich sein Sohn Wanka mit Schimpfworten
die Wangen, zogen mich beim Ohrläppchen und
und Steinwürfen zu erwarten pflegte.
klopften mir auf die Schultern. Die Frauen küssten
Doch Wanka war nicht zu sehen! Gott sei
und herzten mich.
gelobt und gepriesen! Ich war toll vor Freude.
„Ganz sein seliger Vater, wie aus dem Auge
Wanka ist nicht da! Nun bekomme ich heute
geschnitten! Gib ihm nur ein längeres Leben,
keine Schläge, keine Steinwürfe, und mein Haar
Vater im Himmel!“
wird nicht gezaust werden. Aber nun kommt mir
Nur meine Mutter stand regungslos abseits
Lea entgegen, mit einer mächtigen Schüssel
und ihre betränten Augen waren unverwandt auf
dampfender Kräpfchen in der Hand. Ich greife
mich gerichtet. Kein Wort vermag auszudrücken,
danach, da plötzlich steht vor mir Wakolas grosser,
was mir ihr Blick sagte, aber tief unten im Herzen
brauner Hund und schnappt nach der Beute. Lea
ist mir dieser Blick haften geblieben, und heute
ist verschwunden, und an ihrer Stelle taucht Wanka
noch, nach so vielen Jahren, in Trübsal, Dunkel¬
auf und fasst mich bei den Seitenlocken an.
heit und Kälte, wärmt er mich und erhellt mein
„Du hier!“ donnert er.
Dasein
„Mutter! Mutter!“ stosse ich schreiend
Reb Saul rief seine Gäste, alle Männer gingen
aus
und .. erwache.
fort. Nur meine Mutter beharrte dabei, zu Hause
Ich triefe vor Schweiss, sehe mich verweint
zu bleiben. Die Arme konnte niemals ihres Lebens
um und finde mich auf den Armen meines Bruders,
froh werden und sie wollte anderen die Freude
der mich zum Bette hinträgt.
nicht trüben
„Süsje,“ sagte ich mit erstickter Stimme, „nicht
VIII.
wahr, heute ist doch Channkka?“
Endlich verliess uns auch unsere Schwägerin
„Ja, mein Liebling. Warum hast Du ge¬
mit ihrem Kinde, und unsere Stube wurde mit
schricen?“
einem Male leer und öde. Auch das Channkka¬
„Heute geht man doch nicht ins Cheder?“
Kerzlein war längst niedergebrannt. Die Kälte
„Nein, mein Herz.“
nahm von unserer ärmlichen Behausung wieder Be¬
„Und heute schlägt mich auch Wanka nicht?“
sitz. Meine Mutter und die Schwestern setzten
„Nein, nein!“
sich, ganz wie an gewöhnlichen Tagen, hin, um
„Warum schlägt er mich immer so stark; ich
Federn zu schleissen und Strümpfe zu stricken.
habe ihm ja nie was zu leid getan?“
Es war, als wäre über unserem Horizont ein Komet
„Dafür ist es Wanka, er muss schlagen.“
aufgeblitzt, der unser Fasein einige Augenblicke
Mit diesem Gedanken beschäftigt, schlief ich
mit seinem Licht begoss, um uns wieder in tiefe endlich ein